Wenn Angehörige bei der Pflege an ihre Grenzen stossen
Wer seine Angehörigen zu Hause pflegt, stösst oft an seine Grenzen. Die Bloggerin Rita Angelone hat mit einer betroffenen Familie ein Interview dazu geführt.
Das Wichtigste in Kürze
- Pflegende Angehörige stossen bei ihrer Aufgabe oft an ihre Grenzen.
- Die Familienbloggerin Rita Angelone hat mit einer betroffenen Familie darüber gesprochen.
- Am 30. Oktober findet der Tag für pflegende und betreuende Angehörige statt.
Menschen mit einer Beeinträchtigung, einer chronischen Krankheit, Demenz oder Pflegebedürftige nach einer Operation werden oft von ihren Angehörigen betreut. Diese stossen bei ihrer wichtigen Arbeit aber nicht selten selber an ihre Grenzen.
Damit es nicht so weit kommen muss, hilft der Entlastungsdienst Schweiz. So wie bei Katjas Familie, die die Familienbloggerin Rita Angelone interviewen durften. Die Geschichte zeigt auf, wie der Alltag von Betroffenen aussehen und was der Entlastungsdienst mit seiner konkreten Unterstützung bewirken kann.
Betreuende Angehörige als Stütze der Gesellschaft
Ohne betreuende Angehörige wäre vieles undenkbar – in der Familie ebenso wie in der Gesellschaft. Sie sind eine grosse Stütze der Gesellschaft.
Laut Bundesamt für Statistik leisteten Angehörige in der Schweiz im Jahr 2016 insgesamt 80 Millionen Stunden unbezahlte Arbeit für die Betreuung und Pflege von nahestehenden Personen.
Die Kosten dieser Betreuungsarbeit würden unser Gesundheitssystem sprengen. Die grosse Leistung betreuender Angehöriger verdient Anerkennung. Nicht nur am heutigen Tag für betreuende und pflegende Angehörige, sondern an jedem anderen Tag im Jahr genauso.
Seltene Krankheit prägt das Familienleben
Auch im Leben von Katja und ihrer Familie spielt der Entlastungsdienst Schweiz eine wichtige Rolle. Katja ist 43 Jahre alt und Mutter von 2 Kindern – dem 9-jährigen Beni, der mit einem seltenen Gendefekt zur Welt kam, und der 7-jährigen Annabelle.
Katja hat in Deutschland Rechtswissenschaften studiert und bis zur Geburt des Jungen überwiegend im öffentlichen Dienst gearbeitet. Zuletzt im SECO in Bern.
Jetzt hat sie einen 50%-Job als Mitarbeiterin in einer Schulverwaltung, was ihr viel Spass macht und die Zeit gibt, den herausfordernden Alltag zu meistern. Wenn sie neben Kindern, Haushalt und Job noch Zeit hat, bastelt und dekoriert sie gerne, macht Sport oder geniesst einfach mal ihre Ruhe mit Nichts-tun.
Liebe Katja, danke vielmals, dass du uns einen Einblick in euer Familienleben gewährst. Magst du uns deine Liebsten vorstellen?
Gern! Ich fange gleich mit Beni an. Er ist ein fröhlicher und humorvoller Bub und sehr neugierig. Für Sachen, die ihm Spass machen, ist er schnell zu begeistern. Er ist sehr offen gegenüber anderen Menschen und wird wegen seiner gewinnenden Art von allen sehr gemocht.
Seine Schwester Annabelle ist 7 und ein echter Sonnenschein. Sie ist aufgeweckt, lebenslustig, sehr sozial und emphatisch, was sicher auch an ihrem Bruder liegt.
Unser aller Fels in der Brandung ist mein Mann Ronny. Er lässt sich selten aus der Ruhe bringen und lässt beiden Kids immer etwas mehr durchgehen als ich.
Er ist aber auch derjenige, der mehr im Hier und Jetzt lebt und alles so nimmt, wie es ist.
Wie sieht euer Alltag aus?
Wir sind ein sehr eingespieltes Team. An Tagen, an denen wir als Eltern beide arbeiten gehen, stehe ich vor allen gegen 5:30 Uhr auf, geniesse einen Moment Ruhe, um Kaffee zu trinken und vielleicht noch ein paar administrative Sachen zu erledigen.
Dann mache ich die Znüni-Boxen parat, bereite das Frühstück vor und mache mich fertig. Ab 7 Uhr läuft dann alles in Teamarbeit ab. Annabelle verlässt gegen 8 Uhr das Haus.
Ich fahre dann auch ins Büro und mein Mann wartet mit Beni, bis er gegen 8.30 Uhr vom Fahrdienst zur Schule abgeholt wird. Er besucht eine Ganztagsschule.
Die Schule geht jeden Tag (ausser Mittwoch) bis 15 Uhr. An zwei Tagen geht Beni in den Hort bis 17.30 Uhr. Dadurch ist er sehr gut betreut und wir entlastet.
An den Nachmittagen, an denen unser Sohn früher nach Hause kommt, haben wir oft Betreuer vom Entlastungsdienst da, die mit ihm Velo fahren, auf den Spielplatz gehen oder ähnliches unternehmen.
Dann habe ich Zeit, mit unserer Tochter die Hausaufgaben zu erledigen oder sie zu ihren Freizeitaktivitäten zu fahren.
Welche spezielle Bedürfnisse hat Beni und wie werdet ihr diesen gerecht?
Beni braucht viel aktive Betreuung, da er oft in dieselben Verhaltensmuster verfällt, wenn er sich selbst überlassen ist. Dies ist für seine Entwicklung nicht förderlich.
Also muss man ihn immer wieder aktiv aus «seiner Wohlfühlwelt» herausholen und Sachen finden, die ihn fördern, gleichzeitig aber auch sein Interesse wecken. Das ist oft nicht einfach, da er bei fehlendem Interesse sehr schnell herumjammert.
Hier sind wir sehr froh, die Unterstützung des Entlastungsdienstes zu haben, denn während der Betreuung können wir anderes erledigen oder einmal Zeit alleine mit unserer Tochter verbringen, und wissen gleichzeitig, dass er Spass hat und gefördert wird.
Das ist ein 24/7 Job. Neben Beruf, Hausarbeit und Familie bleibt mir sehr wenig Zeit für anderes, zum Beispiel für Arbeit in Vereinen. Ich nutze diese Zeit dann eher für die Pflege von Freundschaften und Nachbarschaften.
Was wäre ohne dich als betreuende Mutter undenkbar?
Ich würde mich als Familien-Managerin bezeichnen, die für einen strukturierten Tagesablauf sorgt. Nur so lässt sich die begrenzte Zeit, die mein Mann und ich neben der Arbeit haben, effizient nutzen.
Daher würde ich sagen, dass es ohne mich undenkbar wäre, alles so «unter einem Hut zu bringen» wie wir das als Familie nun schon seit Benis Geburt schaffen.
Oder, um wieder den Vergleich zur Managerin zu ziehen, ohne mich würde das «Unternehmen» Familie nicht so erfolgreich laufen.
Wie erlebst du den Spagat zwischen Beruf, Hausarbeit und Benis Betreuung?
Als sehr anstrengend – das ist mir gerade in der Zeit der Schulschliessung aufgrund Corona wieder sehr bewusst geworden. Unser Sohn braucht sehr viel Aufmerksamkeit und Hilfe bei allen Alltagshandlungen.
Da er nicht sprechen kann, kann er seine Bedürfnisse oft nicht klar kommunizieren, was ihn (und uns) teilweise sehr frustriert. Oft fragt man sich auch, ob man wirklich genug macht, um den Jungen optimal zu fördern.
Die Frage nach der besten Aufteilung der begrenzten Zeit zwischen Beruf und Haushalt, Benis Betreuung, aber auch Zeit für Annabelle oder auch einmal nur mit meinem Mann, steht eigentlich immer im Raum.
Welche praktischen Herausforderungen stellen sich dir/euch im Alltag?
Wir können nicht sehr spontan sein. Bei Ausflügen muss alles rollstuhlgängig oder zumindest Kinderwagen tauglich sein.
Die Entscheidung zwischen ÖV oder eigenem Auto für Alltagstätigkeiten (z.B. Einkaufen) fällt meist zugunsten des Autos aus, da man da flexibler ist. Auch für Ausflüge oder Ferien sind Busse oder Bahn meist keine Alternative, da wir zusammen mit den Hilfsmitteln einfach zu viel zu schleppen haben.
Was bereitet dir emotional am meisten Mühe?
Täglich zu sehen, wie einfach das Leben mit gesunden Kindern sein könnte. Gerade kürzlich in den Ferien war es wieder sehr präsent: Annabelle lernt andere Kinder kennen, rennt mit ihnen herum, hat Spass – sie macht einfach ihr «eigenes Ding».
Beni kann das nicht und ist daher die ganze Zeit bei uns. Das ist natürlich auch für uns anstrengend. Auch seine Schwester ist oft traurig, dass sie keinen Bruder hat, mit dem sie spielen, rennen und sich auch mal gegen die Eltern «stellen» kann.
Das sind sehr schwierige Momente. Wenn ich merke, dass ich beiden Kindern nicht gleich gerecht werden kann, dann stosse ich manchmal an meine Grenzen.
Wie bewältigst du diese Herausforderungen?
Man kann sie nicht wirklich bewältigen, sondern nur versuchen, zu akzeptieren und gemeinsam das Beste daraus zu machen. So übernimmt mein Mann die Kinder oft am Wochenende oder fährt auch mal mit ihnen alleine für ein paar Tage nach Deutschland zur Familie.
Wir haben von Anfang an gelernt, Hilfe anzunehmen und auch sehr darauf geachtet, Zeit alleine mit unserer Tochter zu verbringen, um ihr das Gefühl zu geben, dass wir für sie da sind und sich nicht alles in unserer Familie um die Behinderung ihres Bruders dreht.
Es ist auch wichtig, dass mein Mann und ich Zeit alleine miteinander verbringen. Wir versuchen zumindest einmal im Jahr auch einmal ein langes Wochenende alleine irgendwo zu verbringen.
Welche Rolle spielt der Entlastungsdienst Schweiz für euch als Familie? Wie unterstützt er dich konkret?
Der Entlastungsdienst spielt für uns eine sehr grosse und wichtige Rolle! Seit der Geburt unserer Tochter haben wir dessen Unterstützung in Anspruch genommen, um die Hürden des Alltags zu meistern.
So konnte ich zum Beispiel mit ihr zum Babyschwimmen oder in die Krabbelgruppen gehen, während unser Sohn mit der Betreuungsperson bei der Therapie oder auch zu Hause war.
Wir haben es von Anfang an sehr geschätzt, dass der Entlastungsdienst Schweiz mit fixen Betreuungspersonen arbeitet: Es kommt nicht bei jedem Einsatz wieder eine andere Person, die wir neu kennenlernen müssen. Mit der Betreuerin Elisabeth beispielsweise sind unsere Kinder aufgewachsen.
Heute nutzen wir den Entlastungsdienst unter der Woche hauptsächlich als «Freizeit-Programm» für unseren Jungen. Seine Schwester kann am Nachmittag selbständig mit Freundinnen spielen oder sich zu Hause beschäftigen.
Da ihr Bruder das nicht kann, müssten wir das die ganze Zeit machen, was zeitaufwendig ist und auch sehr anstrengend. Und am Mittwochnachmittag fährt ein Betreuer vom Entlastungsdienst mit unserem Sohn zur Hippotherapie.
Da wir beide arbeiten, können wir nicht mit ihm gehen. So hat er Therapie, wir können arbeiten, und wir müssen das nicht noch am Wochenende machen.
Wie können deiner Ansicht nach die Rahmenbedingungen für betreuende Angehörige verbessert werden?
Grundsätzlich denke ich, dass wir in der Schweiz ein hervorragendes System haben. Gerade der Versicherungsschutz über die IV ist sicherlich sehr gut und sucht seinesgleichen.
Auch die schulische Betreuung ab dem Kindergartenalter ist super. Problematisch fanden wir eher die erste Zeit. Eltern werden sozusagen von heute auf morgen mit der Situation eines behinderten Kindes konfrontiert, und gerade in dieser ersten Zeit ist man sehr auf sich allein gestellt.
Ich würde mir wünschen, dass von staatlicher Seite her eine enge Betreuung des behinderten Kindes zusammen mit seinen Eltern schon von Beginn an erfolgt. So ähnlich wie wir das jetzt seit der Kindergartenstufe kennenlernen durften (z.B. enge Abstimmung der verschiedenen Therapeuten und Betreuer mit gemeinsamen Standort- und Zielgesprächen).
Gerade die ersten Jahre sind extrem wichtig und stellen die Weichen für die Entwicklung des Kindes. Wir haben es geschafft, dies zum grossen Teil selbst zu organisieren und uns zurecht zu finden, sind uns aber sicher, dass nicht alle Eltern dazu in der Lage sind.
So kann es passieren, dass wichtige Zeit verloren geht.
Wie blickst du in die Zukunft?
Mit einem weinenden und einem lachenden Auge. Ich denke, wir haben die Grundsteine gelegt.
Ich bin dankbar, dass wir gesund sind, dass wir als Familie zusammenhalten und eine Familie und viele Freunde im Hintergrund haben. Natürlich auch, dass wir beide Arbeit haben und sozial abgesichert sind.
Insbesondere über die gute Absicherung aller Hilfsmittel und finanzielle Unterstützung seitens der IV für unseren Sohn bin ich sehr dankbar. Nur manchmal, da wünschte ich mir etwas mehr Rücksicht vom Umfeld.
Herzlichen Dank, liebe Katja, für den Einblick, den du uns in dein Familienleben gewährt hast. Dir und deiner Familien wünschen wir für die Zukunft nur das Beste!
Entlastungsdienst Schweiz hilft Helfenden
Seit 36 Jahren leistet der Entlastungsdienst Schweiz Hilfestellung für betreuende Angehörige. Die Non-Profit-Organisation wurde von einer Familie mit einem Kind mit Behinderung gegründet.
Unterdessen wirken 830 geschulte Betreuungspersonen zu sozialverträglichen Tarifen mit. Über den Entlastungsdienst Schweiz werden Kinder, Erwachsene und Senioren mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder Behinderungen betreut.
Auch bei temporären Überlastungssituationen nach einem Spital- oder Rehabilitationsaufenthalt bietet der Entlastungsdienst Hilfe an. Dank Spenden und Beiträgen kann die Non-Profit-Organisation günstige Konditionen verrechnen.
Generationensandwich als Zusatzbelastung
Besonders herausfordernd ist die Betreuung von Angehörigen für Menschen, die sich im Generationensandwich befinden: Sie betreuen Kinder, die noch wenig selbständig sind, gleichzeitig müssen sie ihre betagten Eltern oder Schwiegereltern betreuen oder pflegen.
Besonders herausfordernd ist dieses Situation für Familien, die von chronischen Krankheit oder Behinderung betroffen sind. Beispielsweise, wenn Kinder über lange Zeit und bis ins Erwachsenenalter hinein aufgrund einer Behinderung Betreuung und Pflege brauchen, und/oder wenn die Eltern und Schwiegereltern von unheilbaren Krankheiten wie Demenz betroffen sind.
Das Alter als Herausforderung
Viele betreuende Angehörige von Menschen mit Behinderungen befinden sich in einem Dilemma, sobald sie selbst und/oder die von ihnen betreuten Familienmitglieder älter werden.
Wie kann man den spezifischen Bedürfnissen von älteren Menschen mit Behinderungen gerecht werden? Und wer kümmert sich um sie, wenn die betreuenden Familienmitglieder sie nicht mehr unterstützen können, weil sie selbst alt werden?
Für betreuende Angehörige, die ihre Liebsten jahrelang oder gar seit Geburt betreut, begleitet und gepflegt haben, ist der Anbruch des Lebensabschnitts Alter mit besonderen Sorgen verbunden.
Diese Sorgen beleuchtet der Entlastungsdienst Schweiz in der diesjährigen Kampagne. Deshalb steht am Tag für pflegende und betreuende Angehörige vom 30. Oktober 2020 das Thema Behinderung im Alter im Fokus.
Mehr Informationen zum Thema gibt es auf auf angehoerige-pflegen.ch
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Dieser Beitrag wurde anlässlich des Tages für pflegende und betreuende Angehörige verfasst. Er ist zeitgleich auf dem Blog von Rita Angelone erschienen, die über die unterschiedlichsten Erlebnisse als Familie schreibt. Der Beitrag ist in Zusammenarbeit mit dem Entlastungsdienst Schweiz entstanden.