Auge in Auge mit dem Steinbock im Aostatal
Das Wichtigste in Kürze
- Der Naturpark Gran Paradiso ist der älteste in Italien.
- Er feiert dieses Jahr sein 100-jähriges Jubiläum.
- Ein Teil des heutigen Parkgebietes wurde 1856 als königliches Jagdschutzgebiet deklariert.
- Der Steinbock verdankt sein Überleben in den Alpen der königlichen Jagdleidenschaft.
Die höchsten Gipfel Europas geben sich im Aostatal die Ehre: Der Mont Blanc, der Monte Rosa, das Matterhorn und der Gran Paradiso flankieren das Aostatal von allen Seiten und sorgen dafür, dass die Region am wenigsten Regentage von ganz Italien verzeichnet – Apulien ausgenommen.
Und überrascht mit skurrilen Eigenheiten: So sprechen alle Einheimischen nicht nur fliessend Französisch, sondern im Gressoneytal auch Titsch, einen Dialekt, den die Walliser im 13. Jahrhundert aus der Schweiz «importierten».
Und rund 70'000 Bewohner beherrschen nach wie vor Patois, eine alte frankoprovenzalische Mundart, welche kurioserweise mit einigen Wörtern Spanisch gespickt ist.
Königlicher Jagdexzess
Das Highlight der Region ist zweifelsohne der Nationalpark Gran Paradiso, der erste offizielle Nationalpark Italiens. Das Parkgebiet umfasst eine Gesamtfläche von 70’000 Hektar und reicht bis hinauf zum Gipfel des mächtigen Gran Paradiso auf über 4000 Metern.
Im Jahr 1856 erklärte König Vittorio Emanuele II. einen Teil des heutigen Parkgebietes zum Königlichen Jagdschutzgebiet – und rettete so den alpinen Steinbock vor dem Aussterben.
Denn die Jagd auf den König der Berge sollte fortan nur noch dem König selbst erlaubt sein – und dieser frönte seinem Hobby fast schon exzessiv.
So verdankt der Steinbock sein Überleben in den Alpen paradoxerweise der königlichen Jagdleidenschaft. Im Jahre 1920 machte der König dem italienischen Staat die 2100 Hektar seines Jagdschutzgebietes zum Geschenk.
Schweizer Schmuggel
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts begannen die Bestrebungen, Steinböcke in weiteren Gebieten des Alpenraums wieder anzusiedeln.
Da der italienische König nicht das geringste Interesse zeigte, der Schweiz Tiere für die Zucht zur Verfügung zu stellen, wurden kurzerhand Wilderer angeheuert, die ab 1906 Steinbockkitze aus dem Gran Paradiso illegal in die Schweiz schmuggelten.
Diese wurden im Tierpark Peter und Paul in St. Gallen aufgezogen und gezüchtet.
Im Angesicht des Steinbocks
Für Touristen ist und bleibt er die mit Abstand grösste Attraktion im Gran Paradiso – denn nirgends im Alpenraum besteht eine grössere Wahrscheinlichkeit, den König der Alpen in der Wildnis anzutreffen.
Also machen wir die Probe aufs Exempel und unternehmen in Begleitung von Giovanni Bracotto, Ranger des Nationalparks, eine mehrstündige Wanderung im Nationalpark.
Stetig bergauf, inmitten einer spektakulären hochalpinen Landschaft, den Steinböcken entgegen. Plötzlich hält der Ranger inne, legt den Zeigefinger auf die Lippen und zeigt in Richtung eines Steilhangs: Eine Gruppe von rund 50 Steinböcken befindet in unmittelbarer Nähe.
In stoischer Ruhe beobachten die Tiere, wie sich die kleine Gruppe behutsam nähert – bis sie kaum mehr als 20 Meter trennen.
«Die heutige Population von rund 15'000 Tieren in der gesamten Alpenregion geht also auf einige wenige Exemplare aus dem Aostatal zurück», so der Ranger. König Vittorio Emanuele II. und dem Nationalpark Gran Paradiso sei Dank.
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Artikel von Tourismus Lifestyle Verlag / Elisha Nicolas Schuetz