Die Turmwächterin von Lausanne
Seit 1405 rufen Türmer während der Nacht die Stunden vom Turm der Kathedrale Notre Dame in Lausanne. Nun amtet zum ersten Mal eine Frau als «Guette».
Das Wichtigste in Kürze
- Seit 1405 werden die Stunden vom Turm der Kathedrale von einem Turmwächter ausgerufen.
- Nachtwächter gab es damals nicht nur in Lausanne, sondern in sämtlichen Städten Europa.
- Doch nur Lausanne hat diese Tradition bewahrt.
- Erstmals in der Geschichte amtet nun eine Frau als Turmwächterin («Guette»).
Drei bis fünf Mal monatlich befindet sich der Arbeitsort von Cassandre Berdoz im Turm der Kathedrale von Lausanne. Genauer in einer kleinen Kammer, 30 Meter oder rund 160 Treppenstufen über dem Erdboden.
Die 27-jährige Lausannerin empfindet es als grosse Ehre, von 10 Uhr abends bis 2 Uhr morgens die Stunden ausrufen zu dürfen, denn schon seit ihrer Kindheit war dies ihr Traum.
Das Ansehen von Türmern war nicht immer hoch. Im Mittelalter galt der Beruf als «ehrlos».
In den städtischen Ständegesellschaften des Mittelalters wurden Kinder aus Türmerfamilien daher meist von der Aufnahme in andere Zünfte ausgeschlossen und durften keine anderen Berufe erlernen.
Wozu Türmer?
Wozu braucht es heute eine Turmwächterin? Türmer sind keine Glöckner, welche die Glocken ziehen oder schlagen. Sie waren traditionell Feuerwächter, die beim kleinsten Feuerflackern oder den ersten Rauchschwaden Alarm schlugen.
Damals waren viele Gebäude der Stadt aus Holz. Sie entflammten bei einer Feuersbrunst rasant und das Feuer griff schnell um sich.
Die Bewohner mussten insbesondere in der Nacht schnell gewarnt werden, um rechtzeitig vor dem Feuer fliehen, türmen zu können.
Macht es Sinn, heute, zu Zeiten von Zentralheizungen, Brandmeldern und professioneller Feuerwehr, auf dem Turm zu wachen und die Zeit vom Turm zu rufen?
Cassandre Berdoz lächelt. «Nötig ist es nicht. Aber wir Lausanner lieben diese Tradition. Es geht nicht um eine Funktion, sondern um Emotionen.»
Charmante Form der Emanzipation
Bereits bei ihrer Maturafeier in der Kathedrale übernahm Cassandre Berdoz mit ihrer geschulten Stimme ein Gesangssolo. Sie liebte seit jeher die Orte um die Kathedrale, wo man über die Stadt und den Lac Leman schauen kann.
Ausschlaggebend für ihren drängenden Wunsch, Guette zu werden, war der Frauenstreik 2019. Damals riefen vier Frauen die Stunden vom Turm – ein symbolischer Akt.
Steter Tropfen höhlt den Mann: Etwa alle drei Monate rief Cassandre Berdoz das zuständige Amt an und erkundigte sich, ob ein Posten als Guette frei würde.
Schliesslich wurde eine Stelle ausgeschrieben – explizit eine Frau wurde gesucht.
Zum Glück wohnt Cassandre Berdoz in der nahen Umgebung der Kathedrale und legt den Hin- und Rückweg zu Fuss zurück.
Sie mag die stillen, einsamen Nachtstunden, weit über den Dächern von Lausanne. «Ich fühle mich wie aus der Zeit gefallen», versucht sie zu erklären.
Nebenjob mit Herzblut
Cassandre Berdoz studierte Kommunikation in Neuenburg und schloss mit einem Bachelor in Letters and Humanities ab. Sie arbeitet heute in einer Kommunikationsagentur. Eines ihrer Projekte ist «Die Nacht der Museen».
Wie alle Lausanner Guets macht sich die Guette kurz vor zehn bereit, zieht den schwarzen Schlapphut über und zündet eine Kerze in einer Laterne an.
Die Schläge der 6.6 Tonnen schweren Glocke sind ohrenbetäubend. Kaum sind die Glockenschläge verklungen, formt sie ihre Hände zu einem Trichter und ruft: «C’est la guette, il a sonné dix!»
Gemessenen Schrittes geht sie weiter, bis ihre Rufe in alle vier Himmelsrichtungen erklungen sind. Voller Stolz und Dankbarkeit, als erste Frau Türmerin von Lausanne zu sein.
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Artikel verfasst von Regula Zellweger / Tourismus Lifestyle Verlag