Gibraltar: Ein Stück Empire im Süden Europas
Seit mehr als 300 Jahren weht der Union Jack über Gibraltar. Mediterrane Lebensart trifft auf britisches Understatement. Wie geht das zusammen? Ein Ortsbesuch.
Das Wichtigste in Kürze
- Gibraltar an der Südspitze Spaniens gilt als Nahtstelle zwischen Europa und Afrika.
- Auf dem bis heute britischen Territorium geht es jedoch vielmehr multikulturell zu.
- Neben dem berühmten Kalksteinfelsen selbst sind seine Affen und Höhlen ein Besuchermagnet.
«Selbst das Wetter ist britisch», sagt der spanische Kunde in dem Buchladen an der Main Street. Karen, die freundliche Verkäuferin, muss schmunzeln.
Zwar ist der Himmel über Gibraltar an diesem Tag ziemlich grau, doch auf der schmalen Landzunge an der Nahtstelle von Europa und Afrika ist das Wetter eigentlich so wenig «very british» wie der Lebensstil der gut 30'000 Einwohner in der kleinen Kronkolonie.
An der Südspitze der Iberischen Halbinsel trifft mediterrane Lebensart auf britisches Understatement.
Die spanische Stadt La Linea de la Concepcion liegt nur einen Steinwurf entfernt vom britischen Überseegebiet;
ein schmales Stück Niemandsland trennt die beiden Nachbarn – und das graue Asphaltband der Landebahn.
Der örtliche Flughafen ist das erste Kuriosum der langgezogenen Halbinsel, denn landet tatsächlich mal eine Maschine – vorwiegend aus Grossbritannien –, signalisiert eine Ampel dem Autoverkehr auf der vierspurigen Strasse anzuhalten.
Doppeldeckerbusse und verwinkelte Gassen
Ist Gibraltar, dieser markante Felsklotz an der Bucht von Algeciras, nun britisch, oder sind seine Bewohner doch eher verkappte Spanier mit britischem Pass?
Buchverkäuferin Karen zögert keine Sekunde mit der Antwort: «Natürlich sind wir Briten», sagt die junge Frau mit dem roten Haar und dem Heer von Sommersprossen.
Ihre Antwort hätte wohl kaum anders ausfallen können, schliesslich wurde sie in England geboren, siedelte vor zwei Jahrzehnten aber nach Gibraltar über – «wegen des besseren Wetters».
Die Eindrücke beim Spaziergang durch das Städtchen, dem ewigen Zankapfel zwischen Briten und Spaniern, fallen weniger eindeutig aus.
Die roten Doppeldeckerbusse mit offenem Verdeck kennt man aus London, die roten Telefonhäuschen von malerischen Ortschaften auf der Insel und die Schüler, die Punkt 13 Uhr aus der Schule strömen, tragen natürlich dunkelblaue Schuluniformen mit Emblem.
Doch die Häuschen, die sich an die verwinkelten Gassen zu Füssen des «Rocks» – des allgegenwärtigen riesigen Kalksteinfelsens – schmiegen, könnten auch irgendwo im spanischen Hinterland stehen.
Auf den Strassen herrscht Rechtsverkehr und in der Main Street, der Einkaufs- und Flaniermeile für Touristen und Einheimische, dominieren klar spanische Sprachfetzen. Neben dem Dialekt Llanito, einem Mischmasch aus spanischen und englischen Worten.
Die Legende um die Affen auf den Felsen
Oben auf dem Kalksteinfelsen rüsten sich die Affen auf den Ansturm der Touristen, die entweder bequem, wenn auch nicht ganz billig, mit der Seilbahn zur Bergstation schweben, oder sich auf dem ziemlich steinigen Devil's Gap Footpath 400 Meter nach oben quälen.
Rund 300 Exemplare dieser ebenso neugierigen wie diebischen Berberaffen sollen auf der Landmarke leben.
Riesige Schilder künden von drastischen Strafen, falls Touristen auf die Idee kommen sollten, die tierischen Bandenmitglieder zu füttern.
Was auch nicht nötig ist, schliesslich kümmert sich ein eigens abgestellter Corporal der britischen Armee um Wohl und Wehe der verlausten Lümmel.
Dass die kleine Affenkolonie so aufopferungsvoll gehegt und gepflegt wird, liegt an einer alten Legende: Ihr zufolge weht der Union Jack so lange über Gibraltar, wie Affen über den Felsen turnen.
Churchill höchstpersönlich soll den Auftrag erteilt haben, Berberaffen aus Marokko zu importieren, um für Blutauffrischung in Europas einziger freilebender Affenkolonie zu sorgen.
Vom Wasser aus betrachtet, erinnert der Felsen von Gibraltar an den aufsteigenden Rumpf eines Ozeanliners. Auf seiner Spitze schweift der Blick über das wachsende Meer aus Hochhäusern. Bebaubares Land ist hier Mangelware. Am Horizont zeichnet sich die Küste Afrikas ab.
Höhlen mit erstaunlichen Geschichten
So unverwüstlich der Felsklotz auch wirkt, im Innern ist er löchrig wie Schweizer Käse. Mehr als 100 Höhlen hat die Erosion ausgewaschen, hinzu kommen 50 Kilometer Tunnel, die während des Zweiten Weltkrieges als unterirdische Festung für 10'000 Soldaten dienten.
Die wohl berühmteste Höhle ist der Gorham-Komplex, der 2016 zum Unesco-Welterbe erklärt wurde. 40 000 Jahre alte Kratzspuren deuten darauf hin, dass hier womöglich schon die letzten Neandertaler Zuflucht fanden.
Noch spektakulärer ist die St. Michael's Cave mit ihrem Wald aus gigantischen Tropfsteinen. Um die Höhle rankte sich lange die Sage, dass Gibraltar unterirdisch mit Afrika verbunden sei: Durch den Gang sollen auch die frechen Affen auf den Felsen gelangt sein.
Doch das ist nur eine hübsche Legende über dieses Wunderwerk der Natur, das heute für Konzerte und Theater genutzt wird und das dank ausgeklügelter Licht-Show in den kitschigsten Farben erstrahlt.