Aufmarsch nahe der türkischen Grenze: Explodiert Nordsyrien?
Das Wichtigste in Kürze
- Die Lage in Nordsyrien spitzt sich zu.
Fünf Tage nach Beginn der türkischen Offensive gegen Kurdenmilizen bitten diese die syrische Regierung um Hilfe. Nach einem entsprechenden Abkommen stehen sich nahe der türkisch-syrischen Grenze nicht nur kurdische Milizen und türkische Armee gegenüber - es sind auch syrische Soldaten aufmarschiert. Explodiert Nordsyrien? Und was heisst die Lage für die Nato?
Eine direkte militärische Konfrontation syrischer und türkischer Truppen ist nicht mehr ausgeschlossen. Zu grösseren direkten Kämpfen zwischen beiden Seiten kam es im syrischen Bürgerkrieg bisher nicht - die Türkei war zuvor schon zweimal auf syrisches Gebiet vorgerückt. Mit einem Stopp der Offensive ist aber erst einmal auch nicht zu rechnen. Präsident Recep Tayyip Erdogan hat betont, dass die Offensive auch trotz Waffenembargos oder wirtschaftlicher Sanktionen weitergehen wird.
«Die Türkei hat einen Lauf und wird versuchen, die Kurden aus so viel Terrain wie möglich hinauszustossen, bevor sie möglicherweise an eine politische Lösung denkt», sagte ein internationaler Militär in der Türkei, der namentlich nicht genannt werden wollte, am Montag. Vor allem, solange die USA und die EU noch an Sanktionen herumüberlegten.
Militärisch könnte die Türkei die vom langen Bürgerkrieg geschwächte syrische Armee überrollen. Zentral ist die Frage, wie die Alliierten Syriens, vor allem Russland, reagieren.
Kriegerisch wohl nicht, auf jeden Fall aber diplomatisch. Kremlchef Wladimir Putin und Erdogan stehen im telefonischen Kontakt. Für Moskau als Verbündetem der syrischen Regierung bringt die türkische Offensive sogar Vorteile. Der Abzug der US-Truppen - und die darauf folgende Offensive der Türken gegen die Kurden - habe auch dabei geholfen, den Dialog zwischen Kurden und der Regierung in Damaskus in Gang zu bringen, sagte der Moskauer Aussenpolitiker Konstantin Kossatschow. Die Russen hatten diesen Dialog und den US-Abzug seit langem gefordert. Die syrische Armee konnte nach dem Hilferuf der Kurden in Teile Nordsyriens einrücken, in denen sie seit Beginn der kurdischen Selbstverwaltung keine Macht mehr hatte.
Kossatschow sieht kaum die Gefahr von direkten Kämpfen zwischen syrischen und türkischen Truppen, weil Ankara nicht die Absicht habe, Teile Syriens zu besetzen. Erdogans Ziele seien transparent, meinte er. Die Türkei brauche die Offensive, um syrische Flüchtlinge in den jetzt umkämpften Gebieten anzusiedeln.
Für die Kurdenmilizen im Nordosten Syriens ist die Kooperation mit der Regierung von Präsident Baschar al-Assad ein riskantes Spiel. Denn die syrische Armee kehrt nun zurück in Gebiete, die sieben Jahre lang unter kurdischer Kontrolle standen. Und die Kurden haben wohl keine Garantie, dass Assads Truppen nach einem Ende der Kampfhandlungen wieder abziehen. Zugleich gibt es aber auch Berichte über Anwohner, die die Ankunft der militärischen Verstärkung im Kampf gegen die Türkei feiern.
Eigentlich trauen die Kurden der Regierung Assads und Russland nicht über den Weg. Grössere direkte Gefechte haben Regierungstruppen und die Kurdenmilizen im Bürgerkrieg zwar vermieden. Assad will aber ganz Syrien wieder unter seine Kontrolle bringen und wehrt sich dabei gegen kurdische Bestrebungen, das Land mit einer föderalen Struktur politisch neu zu ordnen. Im gemeinsamen Kampf, etwa gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) oder nun gegen türkische Truppen, verbindet die Kurdenmilizen und Regierung eher eine Art notgedrungene oder stillschweigende Allianz.
Nein. In Artikel 5 des Bündnisvertrages haben die Nato-Staaten zwar vereinbart, dass ein bewaffneter Angriff gegen einen oder mehrere von ihnen als ein Angriff gegen alle angesehen werden wird und sie sich gegenseitig unterstützen. Das gilt aber nur im Fall eines Angriffs bei der Selbstverteidigung. Artikel 5 sieht nicht vor, dass ein Land nach einem Gegenschlag auf eine eigene Offensive um militärische Unterstützung bitten kann.
Im Bündnisvertrag existiert keine Klausel zum Ausschluss von unerwünschten Mitgliedern - ein Rausschmiss der Türkei wäre deswegen nur durch eine riesige politische Kraftanstrengung aller anderen 28 Bündnisstaaten möglich. Gegen den Ausschluss der Türkei sprechen zudem strategische Gründe. Das Land hat nach den USA die zweitstärkste Nato-Armee und spielt regionalpolitisch eine äusserst bedeutende Rolle. Zudem bleibt die Türkei trotz der Militäroffensive ein wichtiger Partner im Kampf gegen den IS.