Ein Jahr Gaza-Krieg: «Wir fliehen vor dem Tod in die Hölle»
Drei Tage nach Kriegsbeginn forderte Israels Armee zur Evakuierung auf. Fast ein Jahr später leiden Zivilisten im Gazastreifen weiterhin unter den Folgen.
Ahmed Mduch geht davon aus, dass er sein Zuhause nur für ein paar Stunden verlassen muss, als Israels Armee ihn drei Tage nach Beginn des Gaza-Kriegs zur Evakuierung auffordert. Das Militär will in der Nähe Gebäude, die der Hamas gehört haben sollen, angreifen, erinnert sich der 45-Jährige. Inzwischen ist fast ein Jahr vergangen.
Der Palästinenser und seine Familie sind noch immer nicht nach Hause zurückgekehrt. Wenige Stunden nach Beginn des verheerenden Hamas-Terrorüberfalls am 7. Oktober vergangenen Jahres im israelischen Grenzgebiet greift Israels Luftwaffe erste Ziele im Gazastreifen an. Für das Massaker bezahlen müssen auch in dem Küstengebiet vor allem Zivilisten.
UN: 90 Prozent der Bevölkerung wurden bereits vertrieben
Zunächst sind die Kämpfe besonders in der Stadt Gaza heftig. Dort lebten auch Mduch und seine Angehörigen. Es bleibt nicht bei der Flucht aus ihrer Heimatstadt – im Laufe des vergangenen Jahres müssen sie mehrfach erneut fliehen. «Jedes Mal, wenn wir wieder vertrieben werden und an einen anderen Ort gehen müssen, verlieren wir Habseligkeiten, ein Stück unserer Würde und unseres Lebenswillens», sagt der Vater von vier Kindern der Deutschen Presse-Agentur.
Inzwischen kampiert die Familie in der Stadt Deir al-Balah im Süden des Gazastreifens in einem weniger als neun Quadratmeter grossem Zelt, wie der Mann, der früher als Schauspieler gearbeitet hat, berichtet. Eine Toilette, Wasser oder Strom, Schutz vor Hitze oder Regen bietet die Behausung selbstredend nicht. «Wir fliehen vor dem Tod in die Hölle.»
Wie Mduch geht es dem Grossteil der Bewohner des Küstengebiets. Seit Beginn des Kriegs sind UN-Angaben zufolge rund 90 Prozent der 2,2 Millionen Bewohner des Gazastreifens vertrieben worden. Viele mehrfach.
Noch immer jeden Tag Tote im Gazastreifen
Während die Welt derzeit auf die gegenseitigen Angriffe zwischen Israels Armee und der Hisbollah-Miliz im Libanon blickt, gehen die Kämpfe im Gazastreifen weiter. Nach palästinensischen Angaben gibt es jeden Tag weiterhin Tote, ein Ende des Kriegs ist weiter nicht in Sicht. Die indirekten Gespräche zwischen Israels Regierung und der Hamas über eine Waffenruhe, bei denen die USA, Katar und Ägypten vermitteln, kommen seit Monaten nicht voran.
In den nun zwölf Monaten seit Beginn des Gaza-Kriegs kamen nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde mehr als 41'000 Menschen bei Kämpfen im Gazastreifen ums Leben. Die Behörde unterscheidet nicht zwischen Zivilisten und Bewaffneten. Ihre Angaben lassen sich nicht unabhängig verifizieren.
US-Wissenschaftler: 59 Prozent aller Gebäude in Gaza beschädigt oder zerstört
Nach einem Jahr Krieg liegen viele Wohnviertel in dem Palästinensergebiet in Schutt und Asche. Israels Militär wirft der Islamistenorganisation vor, Häuser, Kliniken und Schulen für ihre Terrorzwecke zu nutzen und Anwohner als lebende Schutzschilde zu missbrauchen. Die Hamas hat dies in der Vergangenheit bestritten.
Israel geht dagegen davon aus, dass die Gruppe die Zerstörung und viele tote Zivilisten bewusst einkalkuliere. Dies, um international Sympathien für sich und zugleich Kritik an Israel zu erreichen.
US-Wissenschaftlern zufolge, die die Kriegsschäden mithilfe von Satellitendaten untersuchen, wurden zwischen Oktober 2023 und Juli 2024 rund 59 Prozent aller Gebäude in dem Palästinensergebiet beschädigt oder zerstört. Berichten zufolge entspricht dies rund 170'000 Gebäuden. Der dicht besiedelte Gazastreifen ist etwa 40 Kilometer lang und erstreckt sich über eine Fläche, die nur etwas grösser als die von München ist.
Kein Wasser, kein Strom und keine Medikamente
Besonders im Norden des Küstenstreifens prägen nun graue Häuserruinen und Trümmerberge das Bild. Von dort, genauer gesagt aus dem Flüchtlingsviertel Al-Schati westlich der Stadt Gaza, ist Abdullah Masud im Dezember vergangenen Jahres geflüchtet. Eine Zeit lang seien er und seine Familie in Al-Mawasi, einem Gebiet im Süden des Gazastreifens, das als «humanitäre Zone» ausgewiesen ist, untergekommen.
Dort reiht sich Zelt an Zelt. Es habe kein Wasser, kein Strom und keine Medikamente gegeben. Dies sagt der 44-Jährige, der älter aussieht, als er eigentlich ist.
Palästinenser: Angriffe in humanitärer Zone
Nach seiner Darstellung, die nicht überprüfbar ist, gab es in der Gegend auch Angriffe der israelischen Armee. Im Gedächtnis geblieben sei dem ehemaligen Bankangestellten vor allem die Tötung des Hamas-Militärchefs Mohammed Deif im Juli. «Ich werde nie das gewaltige Flammenmeer vergessen.» Während das Feuer gelodert habe, seien Menschen in Panik umhergerannt, Überreste von Leichen hätten herumgelegen.
Nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde kamen bei dem massiven Luftangriff 90 Menschen ums Leben. Masud, der fünf Kinder hat, habe im Chaos laut nach seinen Familienmitgliedern gerufen. Sie alle hätten überlebt.
Israels Militär bombardierte eigenen Angaben zufolge ein abgezäuntes Objekt der Hamas in der humanitären Zone. Deif gilt als einer der zentralen Drahtzieher des Massakers am 7. Oktober 2023, bei dem Terroristen der Hamas und anderer extremistischer Gruppen mehr als 1200 Menschen in Israel ermordeten und rund 250 Geiseln in den Gazastreifen verschleppten.
Organisationen: Menschen bekommen im Schnitt nur eine Mahlzeit am Tag
Masud und seine Familie zogen schliesslich in ein überfülltes Zeltlager in die etwas weiter nördlich gelegene Stadt Deir al-Balah. Angesichts der verzweifelten Lage wünsche er sich oftmals den Tod, sagt er. Der 44-Jährige hat im vergangenen Jahr eigenen Angaben zufolge fast 25 Kilogramm an Körpergewicht verloren – es sank von 99 auf 75.
Hilfsorganisationen wie Care und Save the Children prangern an, dass Israel Hilfen, darunter Nahrung und Medikamente, in das Küstengebiet etwa durch restriktive Kontrollen behindere. Israel bestreitet dies. Laut den Hilfsorganisationen bekommen die Menschen vor Ort im Schnitt nur eine Mahlzeit am Tag. Zehntausende Kinder seien unterernährt – zudem seien nur noch 17 der 36 Spitäler teilweise im Betrieb.
«Wenn wir die durch den Krieg verursachten Schäden zusammenzählen sollten, könnten wir das nicht», sagt Chalid Al-Frandschi, der ebenfalls aus der Stadt Gaza stammt und nun in Al-Mawasi untergekommen ist. «Ich hoffe, dass dieser Krieg bald aufhört.» Die Menschen bräuchten endlich Sicherheit – auch um den Gazastreifen wieder aufzubauen. Dies könnte Experten zufolge Jahrzehnte dauern.