Ein Jahr im Amt – Israels Regierungschef Netanjahu unter Druck
Israels Premier Netanjahu steht unter Druck – Kritik und Misstrauen wachsen.
Nach einem Jahr im Amt stehen Israels Regierung und Ministerpräsident Benjamin Netanjahu unter grossem Druck. Das derzeitige Misstrauen der israelischen Öffentlichkeit gegen einen Regierungschef in Kriegszeiten sei beispiellos, meldete die Zeitung «Haaretz» am Freitag.
Umfragen zufolge will die Mehrheit der Israelis, dass Netanjahu spätestens nach dem Ende des Gaza-Kriegs zurücktritt. Viele Menschen werfen ihm vor, bislang keine persönliche Verantwortung dafür eingestanden zu haben, dass das Hamas-Massaker am 7. Oktober geschehen konnte.
Aber schon vor dem brutalen Terrorangriff hatte es in Israel immer wieder Massenproteste gegen Netanjahu und seine am 29. Dezember 2022 vereidigte Koalition gegeben.
Leak enthüllt: Gesetzesänderung könnte scheitern
Die am weitesten rechtsstehende Regierung in der Geschichte Israels treibt eine höchst kontroverse Justizreform voran. In den Monaten vor dem Krieg stand sie in der Kritik, damit Israels Sicherheit und Einheit zu gefährden.
Bis Mitte Januar soll das Oberste Gericht in Israel über ein erstes Kernelement dieser Justizreform entscheiden. Israels Parlament in Jerusalem hatte die erste Gesetzesänderung Ende Juli trotz massiven Widerstands der Bevölkerung verabschiedet. Sie soll dem Obersten Gericht die Möglichkeit nehmen, gegen «unangemessene» Entscheidungen der Regierung, des Ministerpräsidenten oder einzelner Minister vorzugehen.
Vor einigen Tagen leakte der israelische Sender Channel 12 einen Entwurf des Urteils der Obersten Gerichts. Demnach wird die Mehrheit der Richter die Gesetzesänderung für nichtig erklären. Acht Richter sollen für den entsprechenden Urteilsentwurf, sieben dagegen stimmen.
In Israels Geschichte wurde bisher noch nie ein vergleichbares Gesetz vom Obersten Gericht einkassiert. Sollte dies geschehen und die Regierung die Entscheidung nicht akzeptieren, droht dem Land eine Staatskrise. Kritiker stufen das Vorgehen der Regierung als Gefahr für Israels Demokratie ein.
Korruptionsprozess belastet Netanjahu zusätzlich
Netanjahus Regierung argumentiert, das Gericht sei in Israel zu mächtig und mische sich zu stark in politische Fragen ein. Die Pläne könnten Netanjahu laut Experten jedoch auch in einem schon länger gegen ihn laufenden Korruptionsprozess in die Hände spielen. Die seit mehr als drei Jahren laufende Verhandlung wurde im Dezember nach einer Pause wieder aufgenommen. Vor einem Jahr kehrte der frühere Langzeit-Ministerpräsident Netanjahu nach 18 Monaten in der Opposition zurück an die Macht.
In Israels Geschichte war niemand länger im Amt als der 74-Jährige. Ob sich Netanjahu angesichts des kolossalen Versagens am 7. Oktober nach dem Krieg als Regierungschef halten kann, ist ungewiss. Kritiker werfen ihm vor, das Erstarken der Hamas im Gazastreifen geduldet oder sogar gefördert zu haben.
Laut jüngsten Umfragen würde gegenwärtig die Partei von Benny Gantz, Minister im Kriegskabinett, mit Abstand stärkste Fraktion werden. Die «Haaretz» mutmasste bereits, Netanjahu wolle, dass der Krieg im Gazastreifen nie ende, um sich, so lange es gehe, an der Macht zu halten.