Sorge vor Eskalation der Gewalt im Ramadan – Die Nacht im Überblick
Die internationalen Hoffnungen auf eine Waffenruhe im Gazastreifen vor dem muslimischen Fastenmonat Ramadan haben sich zerschlagen.
Wenige Stunden vor Beginn des für Muslime heiligen Monats bekräftigte der in Katar residierende Chef der islamistischen Hamas, Ismail Hanija, am Sonntag die Forderung nach einem dauerhaften Waffenstillstand. Die Geiseln würden nicht freikommen, solange Israel den Krieg nicht beende und die Truppen abziehe.
Israel gab dagegen der Hamas die Schuld, dass die Verhandlungen der Vermittler Katar, Ägypten und USA bislang zu keinem Abkommen geführt haben. «Ihre Strategie besteht darin, den internationalen Druck auf Israel zu erhöhen und die internationale Gemeinschaft dazu zu bringen, Israel davon abzuhalten, die endgültige Niederlage der Hamas-Truppen herbeizuführen», sagte Regierungschef Benjamin Netanjahu in einem von «Bild», Welt TV und «Politico» geführten Interview (Sonntag) an seinem Amtssitz in Jerusalem.
EU-Kommissionschefin: Seekorridor für Gaza unbedingt notwendig
Derweil stehen Hilfstransporte für die notleidende Bevölkerung in Gaza auf dem Seeweg an. Das mit Hilfsgütern fertig beladende Schiff «Open Arms» der gleichnamigen spanischen Hilfsorganisation sollte frühestens am Montagmorgen vom zyprischen Hafen Larnaka in See stechen, berichtete der zyprische Rundfunk (RIK) am Sonntagabend. Larnaka ist rund 400 Kilometer vom Gazastreifen entfernt. Wo genau das Schiff anlanden und wie die Hilfe dann zu den Menschen gelangen soll, war zunächst unklar.
Der Seekorridor sei unbedingt nötig, «weil wir eine humanitäre Katastrophe zurzeit erleben», sagte EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen am Sonntag im ZDF-«heute journal». Das Vorgehen sei mit Israel abgesprochen, sie erwartete aber auch von dort mehr Hilfe. Das Land komme seiner Pflicht zur Versorgung der Menschen «nur begrenzt» nach und müsse mehr tun, um ziviles Leben zu schützen, sagte sie.
Gespannte Lage zu Beginn des Ramadans
Im Westjordanland und rund um die heiligen Stätten in der Altstadt von Jerusalem wird unterdessen mit erhöhten Spannungen im Ramadan gerechnet. Nach Einschätzung des israelischen Auslandsgeheimdiensts Mossad ist die Hamas bestrebt, die Region während des Fastenmonats «in Brand zu setzen». Im Westjordanland habe Israel nach zahlreichen Warnungen über eine Zunahme der Gewalt seine dort stationierten Sicherheitskräfte verstärkt, berichtete der Sender i24news am Sonntagabend. Am Vorabend des Ramadans seien nicht weniger als 23 Bataillone des israelischen Militärs dort stationiert gewesen.
Tausende von Polizisten seien zudem in den engen Strassen der Altstadt Jerusalems im Einsatz, berichtete die «Times of Israel». Die israelische Regierung hat den Muslimen während des Ramadans das Beten auf dem – auch Haram al-Scharif genannten – Tempelberg gewährt. Allerdings soll die Sicherheitslage wöchentlich neu bewertet werden. Der Ort ist sowohl Juden als auch Muslimen heilig. Laut der «Times of Israel» kursierte am Sonntagabend in sozialen Medien ein Video, auf dem am Eingang zu dem Gelände ein Gerangel zwischen israelischen Polizisten mit Schlagstöcken und Gläubigen zu sehen sei.
Netanjahu: «Wir sind einem Sieg sehr nahe»
Israels Regierungschef Netanjahu zeigte sich unterdessen entschlossen, die geplante Militäroffensive gegen die Hamas in Rafah im Süden des Gazastreifens trotz internationaler Warnungen bald zu beginnen. «Wir sind einem Sieg sehr nahe», sagte der Rechtspolitiker in dem von «Bild», Welt TV und «Politico» geführten Interview. Sobald die Offensive beginne, sei es eine Frage von vier bis sechs Wochen, bis die intensive Phase der Kämpfe abgeschlossen sei.
«Wir haben drei Viertel der Hamas-Bataillone vernichtet», sagte Netanjahu. Nun aufzugeben, sei absurd. Die Hamas würde sich «neu aufstellen und von Neuem anfangen». Auslöser des Kriegs war ein Massaker, bei dem Terroristen der Hamas sowie anderer extremistischer Gruppen am 7. Oktober in Israel rund 1200 Menschen ermordet und 250 entführt hatten.
Netanjahu weist Bidens Vorwürfe zurück
Netanjahu wies Vorwürfe des US-Präsidenten Joe Biden zurück, der das harte militärische Vorgehen Israels kritisiert hatte. «Wenn der US-Präsident damit meint, dass ich eine Privatpolitik gegen den Wunsch der Mehrheit der Israelis verfolge und das Israels Interessen schadet, dann liegt er in beiden Punkten falsch», sagte er in dem Interview. Seine Politik werde von einer «überwältigenden Mehrheit» der Israelis unterstützt. «Sie unterstützen die Massnahmen, die wir ergreifen, um die übrig gebliebenen Bataillone der Hamas zu zerstören.»
Die USA kritisieren die geplante Offensive in Rafah, weil dort 1,5 Millionen Menschen auf engstem Raum Schutz vor den Kämpfen in anderen Teilen Gazas suchen. Zunächst müssten sie in Sicherheit gebracht werden, sagte Biden. Für ihn stelle das eine «rote Linie» dar.
Bericht: Hamas setzt zum Überleben auf Ramadan
Der Beginn einer Bodenoffensive in Rafah während des Ramadans wäre riskant, sagte Udi Dekel, pensionierter israelischer Brigadegeneral und Forscher am Institut für nationale Sicherheitsstudien in Tel Aviv, dem «Wall Street Journal». Israel habe grössere Einsätze in Rafah bis jetzt aufgeschoben, um Zeit für die Verhandlungen über eine vorübergehende Waffenruhe und die Freilassung von Geiseln zu gewinnen. Sollten die Gespräche zu keinem Ergebnis führen, gebe es für Israel keinen Grund mehr, sich zurückzuhalten, sagte Dekel.
Seit Wochen ringen Israel und die Hamas in indirekt geführten Verhandlungen um eine befristete Waffenruhe. Die Hamas-Führung setze darauf, dass der Ramadan die Dynamik des Krieges zu ihren Gunsten wendet, schrieb das «Wall Street Journal» am Sonntag. Sie hoffe, dass diplomatischer Druck zur Einstellung der Offensive führt und so das Überleben der Hamas sichert.
Hamas-Chef Hanija sagte am Sonntag, wenn die Vermittler mitteilen würden, dass Israel sich verpflichtet habe, den Krieg zu beenden und sich aus dem Gazastreifen zurückzuziehen, sei man zu Flexibilität in den Gesprächen bereit. Der Vorschlag der Vermittler sah bisher nur eine sechswöchige Waffenruhe und eine erste Phase des Austauschs von Geiseln gegen palästinensische Häftlinge vor. Die Hamas wolle «die einzige Karte, die sie hat, nämlich die Geiseln, nicht als Gegenleistung für eine vorübergehende Waffenruhe hergeben», sagte Ghassan Khatib von der Birzeit University dem «Wall Street Journal».
Netanjahu widerspricht Opferzahlen der Hamas
Nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde in Gaza stieg die Zahl der im Krieg getöteten Palästinenser am Sonntag auf über 31'000. Die Angaben machen keinen Unterschied zwischen Zivilisten und bewaffneten Kämpfern. Bei der grossen Mehrheit der Opfer handle es sich aber um Frauen, Minderjährige und ältere Männer, betonte die Hamas-Behörde.
Netanjahu widersprach dieser Darstellung in dem Interview. Die Anzahl der getöteten Zivilisten in Gaza sei weitaus geringer, sagte er. Die Armee seines Landes habe «mindestens 13'000 Terroristen» getötet.