UN fordern Polio-Impfungen während Verhandlungen in Gaza
Während die Verhandlungen über eine Waffenruhe im Gazastreifen fortdauern, fordern UN-Vertreter dringend mehr Polio-Impfungen für Kinder im Kriegsgebiet.
Während die zähen Verhandlungen über eine Waffenruhe im Gazastreifen weitergehen, fordern UN-Vertreter verstärkte Anstrengungen für dringend benötigte Polio-Impfungen für Hunderttausende Kinder im Kriegsgebiet. «Wenn nicht sofort Präventionsmassnahmen ergriffen werden, wird der Polio-Ausbruch nicht nur zu einer Katastrophe der Kinder in Gaza, sondern könnte die weltweiten Anstrengungen zum Ausrotten der Krankheit wesentlich zurückwerfen», warnte Louisa Baxter, Leiterin der Notfall-Gesundheitseinheit des Kinderhilfswerk Save the Children, bei einer Sitzung des UN-Sicherheitsrats in New York.
Ende August soll eine Impfkampagne beginnen. Mehr als ein Dutzend Mitgliedsnationen sprachen sich zu diesem Zweck für eine Feuerpause in Gaza aus. Es gebe bereits bestätigte Ausbrüche im Gazastreifen, und die Krankheit werde nicht an den Grenzen des abgeriegelten Küstenstreifens Halt machen, sagte Baxter. Rund 50'000 Kinder seien dort seit Kriegsbeginn geboren worden und hätten generell nicht die nötigen Impfungen bekommen.
Gesundheitssystem ist unvorbereitet auf neue Polio-Krise
«Das dezimierte Gesundheitssystem ist vollkommen unvorbereitet, um dieser neuen Polio-Krise zu begegnen», sagte Baxter. Polio ist eine ansteckende Infektionskrankheit, die vor allem bei Kleinkindern dauerhafte Lähmungen hervorrufen und zum Tod führen kann. Verbreitet wird das Virus oft über verunreinigtes Wasser. Eine Heilung gibt es bisher nicht.
Seit dem Ausbruch des Krieges vor mehr als zehn Monaten sind die 2,2 Millionen Bewohner des abgeriegelten Gazastreifens, der flächenmässig etwa so gross ist wie München, durch wiederholte Evakuierungsaufrufe gezwungen, auf immer geringeren ausgewiesenen Flächen Schutz zu suchen. Inzwischen machen sie nach UN-Angaben nur noch elf Prozent der Fläche Gazas aus. Ungeklärte Abwässer, Mangel an sauberem Wasser, unzureichende medizinische Einrichtungen und fehlende Hygieneartikel verstärken die Furcht vor Krankheitsausbrüchen.
Dieser Platzmangel verschlimmere die katastrophale humanitäre Lage, heisst es in einer kürzlichen Mitteilung des UN-Nothilfebüros Ocha. «Was in den letzten zehn Monaten in Gaza passiert ist, ist verheerend. So viele Unschuldige tot, verzweifelte, hungernde Menschen, die fliehen, um sich in Sicherheit zu begeben. Immer und immer wieder. Das Ausmass des Leidens ist herzzerreissend», sagte die demokratische US-Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris zum Abschluss des Parteitags der Demokraten. Sie und US-Präsident Joe Biden arbeiteten daran, den Krieg zu beenden, die Geiseln freizubekommen und die Sicherheit Israels zu gewährleisten. Das Leiden im Gazastreifen müsse enden «und die Palästinenser müssen ihr Recht auf Würde, Sicherheit, Freiheit und Selbstbestimmung realisieren können».
Weitere Gespräche über Waffenruhe
Ein israelisches Verhandlungsteam führt derweil in der ägyptischen Hauptstadt Kairo erneut Gespräche über ein Abkommen für eine Waffenruhe, wie ein israelischer Regierungssprecher sagte. Auch eine Delegation aus den USA traf laut informierten Kreisen am Flughafen Kairo für weitere Verhandlungen in der Stadt ein.
Die israelische Zeitung «Haaretz» schrieb unter Berufung auf einen israelischen Repräsentanten, das Verhandlungsteam bereite sich auf ein mögliches Spitzentreffen am Sonntag vor, «falls die Hamas Bewegung erkennen lässt». Ägypten, Katar und die USA vermitteln zwischen Israel und der Hamas, da diese nicht direkt miteinander verhandeln.
Bericht über neue Vorschläge Israels
Mit einem Abkommen soll auch die Freilassung israelischer Geiseln in der Gewalt der islamistischen Hamas und die Entlassung palästinensischer Häftlinge aus israelischen Gefängnissen beschlossen werden. Einer der grössten Knackpunkte ist jedoch Israels beharrliche Forderung nach dauerhafter Kontrolle der südlichen Grenze zwischen Gaza und Ägypten. Laut der israelischen Armee verlaufen unter dem sogenannten Philadelphi-Korridor etliche Tunnel der Hamas. Israel pocht auf die Kontrolle, um so Waffenschmuggel zu verhindern. Ägypten bestreitet dagegen die Existenz unterirdischer Schmuggelrouten.
«Es gibt eine Krise des Misstrauens zwischen Israel und Ägypten», sagte Israel Ziv, ein laufend von Beamten über den Krieg informierter israelischer General im Ruhestand, dem «Wall Street Journal». Die US-Zeitung berichtete unter Berufung auf ägyptische Quellen von neuen Vorschlägen Israels. Demnach haben Israels Verhandlungsführer vorgeschlagen, in dem Korridor acht Beobachtungstürme errichten zu lassen. Die USA hätten einen Gegenvorschlag von zwei Türmen eingebracht. Ägypten lehne jedoch beide Vorschläge mit der Begründung ab, dass solche Türme Israels Militär dauerhaften Zugang zu dem Gebiet verschaffen würden.
Netanjahu besteht auf Forderungen
Das Büro des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu bezeichnete am Abend einen Medienbericht als falsch, wonach die Stationierung einer multinationalen Truppe entlang des Philadelphi-Korridors in Erwägung gezogen werde. Dies hatte die katarische Nachrichtenwebseite Al-Araby al-Jadid berichtet.
Netanjahu bestehe auf dem Grundsatz, dass Israel den Philadelphi-Korridor kontrolliert, um die Hamas daran zu hindern, sich erneut zu bewaffnen, hiess es in der Mitteilung von Netanjahus Büros. Dies würde der Hamas ermöglichen, die Gräueltaten vom 7. Oktober 2023 zu wiederholen. Terroristen der Hamas und anderer Gruppen hatten an dem Tag in Israel mehr als 1200 Menschen getötet und mehr als 250 Geiseln nach Gaza verschleppt. Das Massaker war Auslöser des Krieges.
Die Hamas wirft Israel vor, die Verhandlungen über ein Abkommen mit seiner Weigerung zu blockieren, sich aus dem etwa 14 Kilometer langen Philadelphi-Korridor zurückzuziehen. Die Islamisten fordern einen kompletten Abzug Israels aus dem Gazastreifen. Aus Sicht Ägyptens verstosse die Anwesenheit israelischer Streitkräfte in dem Korridor gegen den ägyptisch-israelischen Friedensvertrag von 1979, zitierte das «Wall Street Journal» ägyptische Beamte. Der Vertrag verbiete Israel dort die Stationierung von Panzern, Artillerie und Flugabwehrwaffen.
Sorge vor Scheitern der Verhandlungen
Zudem wolle Ägypten nicht als Komplize einer israelischen Besetzung des Gazastreifens gesehen werden, hiess es. Israel bestreite jedoch eine Verletzung des Vertrags und bestehe auf eine eigene Präsenz seines Militärs in dem Korridor, weil es nicht glaube, dass es sich auf Ägypten verlassen könne, um Waffenschmuggel der Hamas zu unterbinden, schrieb die US-Zeitung. Daniel Kurtzer, ein ehemaliger US-Botschafter in Ägypten und Israel, halte es für möglich, dass Ägypten und Israel letztlich eine Lösung für das Problem finden. «Aber ich bin mir nicht sicher, ob es eine Lösung für die Forderungen der Hamas gibt», wurde er zitiert.
Laut einem kürzlich erschienenen Bericht des US-Nachrichtenportals «Politico», der sich auf zwei israelische und zwei US-Beamte beruft, steht ein Abkommen kurz vor dem Scheitern, ohne dass es eine klare Alternative gebe. In dem Fall wird eine grössere Eskalation im Nahen Osten befürchtet. Nach der Tötung zweier ranghoher Feinde Israels in der iranischen Hauptstadt Teheran und der libanesischen Hauptstadt Beirut vor knapp drei Wochen hatten der Iran und die libanesische Hisbollah-Miliz massive Vergeltungsschläge angedroht.