Hongkong: 100 Tage Tränengas – und kein Ende in Sicht
Das Wichtigste in Kürze
- Seit 100 Tagen wird in Hongkong demonstriert.
- Beide Seiten machten sich bislang kaum Zugeständnisse.
- Ein Ende der Proteste ist nicht in Sicht.
Fünf gespreizte Finger für fünf Forderungen, Arme gestreckt, Handfläche nach vorne. Hunderttausende solcher Hände durchstossen die Schwaden aus Tränengas und Rauch. Begleitet vom Knallen des Gummischrots und einigen Fetzen des Widerstandslieds «Glory to Hong Kong».
Es ist Montag in Hongkong - Der Beginn einer mittlerweile ganz normalen Woche.
100 Tage ist es her, seit eine Million Menschen in Hongkong auf die Strasse gingen. Sie demonstrierten friedlich gegen die «Extradition Bill». Diese hätte es China erlaubt, sich Verdächtige aus der Sonderverwaltungszone ausliefern zu lassen. Staatschefin Carrie Lam knickte mittlerweile ein und zog das Gesetz zurück.
Doch zu spät. Unzählige Strassenschlachten und 1453 Festnahmen später haben sich die Forderungen verändert, die Fronten aber nur verhärtet.
Die Demonstranten ohne Anführer
Seit etwa zwei Wochen lautet der Schlachtruf der Demonstranten «Fünf Forderungen, nicht weniger!». Sie wollen neben der Einstampfung des Gesetzes eine neue Regierung wählen und eine unabhängige Untersuchung der Polizeigewalt. Zusätzlich sollen alle im Zuge der Demonstrationen festgenommenen Personen freigelassen und nicht mehr als Randalierer bezeichnet werden.
Hauptproblem der Demonstranten ist ihre lose Organisation. Es gibt keinen Anführer, nur Gesichter der Bewegung. Zum Beispiel der 22-jährige Joshua Wong, der momentan im Ausland für Unterstützung wirbt. Er spricht heute Dienstag vor dem Kongress in Washington.
Die Regierung in Hongkong ist überfordert
Für die Regierung ist die ganze Geschichte ein undankbarer Drahtseilakt zwischen der eigenen Bevölkerung und Peking. Die Wut der Demonstranten richtet sich im Kern nicht gegen die Hongkonger Regierung, sondern gegen den chinesischen Einfluss.
Das Parlament in der Sonderverwaltungszone ist ganz bewusst nur mit pro-chinesischen Akteuren besetzt. Das ist den Aktivisten ein Dorn im Auge.
Staatschefin Carrie Lam hat beim Auslieferungsgesetz zu spät nachgegeben und schafft es seither nicht, die Ausschreitungen unter Kontrolle zu bekommen. Peking lässt sie wohl auch nicht zurücktreten, weil das Schwäche gegenüber den Demonstranten signalisieren würde. Alles was ihr bleibt, ist der Versuch, einen Mittelweg zwischen den unversöhnlichen Fronten zu finden.
China wartet auf nationalen Notstand
Von China ist ausser Drohgebärden in Richtung der Demonstranten in Hongkong bisher noch relativ wenig gekommen. Der Grossteil seines Einflusses wird Peking wohl hinter den Kulissen auf die Hongkonger Regierung ausüben. Per Gesetz dürfte das Militär oder die chinesische Polizei sowieso nur aktiv werden, wenn der nationale Notstand ausgerufen würde.
Trotzdem hat China seine Rhetorik gegenüber den Aktivisten im letzten Monat noch einmal verschärft. «Wer mit dem Feuer spielt, wird verbrennen.» Oder: «Missversteht unsere Zurückhaltung nicht als Schwäche», hiess es etwa vom obersten Polizeibüro in Peking.
Der Rest der Welt zögert
Die Proteste sind ein heisses Eisen für die meisten Länder. Die Forderungen nach einer Demokratie erscheinen insbesondere im westlichen Verständnis zwar nachvollziehbar.
Trotzdem zögern die meisten Regierungsvertreter davor, das auch so zu formulieren. Zu wichtig sind für die meisten Staaten die Handelsbeziehungen zu China, welches mit Argusaugen jede Einmischung überwacht.
Joshua Wongs Auslandtournee bringt darum die meisten Ansprechpartner in Verlegenheit. Gut zu sehen am Beispiel Deutschland: Bundeskanzlerin Merkel schickt zwar Aussenminister Heiko Maas vor, gewährte dem jungen Aktivisten aber nicht die gewünschte Audienz. Ein Bekenntnis, irgendwie, aber ein zurückhaltendes.