Nicht mehr die Überzeugung für etwas, sondern die Ablehnung von Parteien bestimmt, wo die EU-Bürger Ende Mai ihr Kreuz machen. Das ist das Ergebnis einer Studie der Bertelsmann-Stiftung. Die Autoren beklagen eine wahlmüde politische Mitte.
Rechte EU-Skeptiker treffen sich in Prag, unter ihnen Marine Le Pen (Mitte) und der Niederländer Geert Wilders (hinten). Foto: Ondøej Deml/CTK
Rechte EU-Skeptiker treffen sich in Prag, unter ihnen Marine Le Pen (Mitte) und der Niederländer Geert Wilders (hinten). Foto: Ondøej Deml/CTK - dpa-infocom GmbH

Das Wichtigste in Kürze

  • Gegen etwas sein: Eine ablehnende Haltung gegenüber Brüssel, dem Euro oder der Europäischen Union zu haben ist für extreme und populistische Parteien nichts Neues.
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Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung aber könnte die Antihaltung einer Mehrheit der wahlberechtigten Europäer entscheidend den Ausgang des Urnengangs für ein neues EU-Parlament mitbestimmen.

«Viele Bürger entscheiden sich nicht mehr für eine Partei, sondern wählen gegen solche Parteien, die sie am stärksten ablehnen», sagte Mitautor Robert Vehrkamp über das Ergebnis der Studie, die am Freitag in Berlin vorgestellt wurde. Titel: Europa hat die Wahl - Populistische Einstellungen und Wahlabsichten bei der Europawahl 2019. Dafür wurde im Januar 2019 repräsentativ fast 24.000 Wähler aus 12 EU-Ländern befragt.

Beim Ergebnis stechen zwei Erkenntnisse ins Auge. Jeder zehnte wahlberechtigte Europäer will nach eigenen Angaben eine rechtspopulistische oder rechtsextreme Partei wählen. Hinzukommen noch immerhin 6,2 Prozent, die bei linksextremen oder linkspopulistischen Parteien ihr Kreuz machen wollen.

Während sich hier nach Auffassung des Demokratieforschers Vehrkamp ein Trend verfestigt hat, kämpfen die etablierten Parteien gegen zwei Probleme an. Ihre potenziellen Wähler zeigen sich laut der Studie noch wahlmüde.

Und: Eine Mehrheit des Wahlvolkes identifiziert sich mit den Parteien nicht über Zustimmung, sondern über Ablehnung. Und hier liegen die Antworten der fast 24.000 Wahlberechtigten bei der negativen Parteiidentität im gesamten Spektrum nur wenige Prozentpunkte auseinander.

52,8 Prozent würden niemals rechtspopulistische oder rechtsextreme Parteien wählen. Für linkspopulistische oder linksextreme Parteien sagen das 52,2 Prozent. 50,7 Prozent sagen das bei liberalen Parteien. Mit dem Wert von 47,8 Prozent liegt das Lager der christdemokratischen und konservativen Parteien nur knapp dahinter, gefolgt von den Grünen mit 47 Prozent. Sozialdemokratische und sozialistische Parteien schneiden mit 42 Prozent besser ab.

«Je stärker die extremen und populistischen Parteien an den Rändern werden, umso grösser müssen die Koalitionen aller etablierten Parteien werden, um im neuen Europaparlament überhaupt entscheidungsfähige Mehrheiten bilden zu können. Das wiederum könnte die Ränder weiter stärken», sagt Vehrkamp. Ein Teufelskreis, der nur vermieden werden könne, «wenn die etablierten Parteien der politischen Mitte stark genug werden, um auch untereinander in verschiedenen Konstellationen Mehrheiten bilden zu können.»

Der Demokratieforscher warnt vor einem Trugschluss: «Im Wettbewerb mit den Populisten ist Nachlaufen und Nachahmung die schlechteste Strategie. Die etablierten Parteien könnten stattdessen noch stärker auf eine Gegenmobilisierung der politischen Mitte gegen die populistischen Extreme setzen. Die hohen Ablehnungswerte gegenüber den Links- und Rechtspopulisten sind dafür eine solide Grundlage.»

Laut den Autoren konnten die Wissenschaftler erstmals einen Zusammenhang nachweisen zwischen populistischen Forderungen und dem Gefühl, sich schlecht von Parteien repräsentiert zu fühlen. Durch ein Experiment wiesen die Forscher nach, dass einige Befragte plötzlich populistische Thesen vertraten, nachdem sie sich durch vorgegaukelte Parteipositionen nicht mehr in ihren Ansichten vertreten fühlten.

«Wer sich schlecht repräsentiert fühlt, denkt und wählt populistischer. Gute Repräsentation ist deshalb das beste Rezept zur Eindämmung von Populismus. Die etablierten Parteien müssen die Sorgen und Anliegen der Wähler möglichst frühzeitig aufnehmen», sagt Vehrkamp. Das sei in der Vergangenheit nicht immer gelungen, wie aktuell das für viele Wähler brennende aber von den etablierten Parteien lange unterschätzte Thema Wohnungsbau und bezahlbares Wohnen zeige.

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