Auf der Gebirgsjäger-Skirunde in Südtirol
Die Sellaronda durch die Dolomiten ist wohl die berühmteste Skirunde der Welt. Weit weniger bekannt ist die Gebirgsjägertour. Dabei ist sie doppelt so lang – und mindestens ebenso schön.
Das Wichtigste in Kürze
- Den roten Hahnenkopf erkenne ich sofort.
Das Logo klebte auf meinem ersten Skihelm, Mitte der 1980er, als ich hier in Alta Badia als Dreijähriger das Skifahren lernte. Nun kräht er, unverändert stilisiert, direkt über der Skibrille von Walter Frenademetz. Eine Breitseite Nostalgie gleich zum Start.
Frenademetz war schon ein erfahrener Skilehrer, als ich damals im Pflug zwischen den Beinen meines Vaters herumstümperte. Nun ist er Ende 70, hat buschige Augenbrauen, einen tiefbraunen Teint und all die Kerben um die Adlernase, die man sich in 61 Jahren auf der Piste so verdient. Er ist der perfekte Mann für diese Tour.
Um bei meiner Rückkehr möglichst viel zu sehen, habe ich mir die weiteste Skirunde durch die Dolomiten ausgesucht: die Gebirgsjägertour. Mit gut 80 Kilometern ist sie doppelt so lang wie die weltberühmte Sellaronda. Und ebenso schön, sagt Frenademetz. Dennoch werde sie weitaus weniger gefahren, aus einem einfachen Grund: «Man muss zwei Skibusse nehmen. Und wenn man den Bus verpasst, muss man eine Stunde warten.» Oder sogar zwei, aber dazu später mehr.
Vorfreude im gelben Ei
Sieben bis acht Stunden soll die Gebirgsjägertour dauern. Pünktlich zum Liftstart um 8.30 Uhr treffen wir uns an der Talstation von La Villa. Die Gondel der Seilbahn löst den nächsten Nostalgie-Anfall aus: ein gelbes Ei, das schon vor 20 Jahren auf den Piz La Ila fuhr.
Durch die zerkratzten Scheiben sehen wir die ersten Dolomitenwände in der Morgensonne leuchten. Heftige Vorfreude wallt auf. Und wird noch grösser, als wir an der Bergstation losgleiten.
Rechts erhebt sich der Turm des Sassongher, vor uns der breitbrüstige Sellastock mit dem Piz Boé und in der Ferne die glänzende Marmolada, die Königin der Dolomiten. Der Gipfel im Zentrum unserer Runde ist unscheinbarer – aber historisch bedeutend.
Blutberg wird der Col di Lana genannt, weil an seinen Hängen im Ersten Weltkrieg rund 8000 Soldaten gefallen sind. Die Kaiserjäger von Österreich-Ungarn hielten den Berg, bis die italienischen Alpini 1916 einen Tunnel gruben und den Gipfel sprengten.
Wir starten die Skirunde um den Blutberg gegen den Uhrzeigersinn. Die Richtung sei aber egal, sagt Frenademetz. Auf breitem, sanften Pisten gleiten wir über ein hügeliges Hochplateau, vorbei an kleinen Stadeln aus dunklem Lärchenholz.
Piste für Piste kommen wir den zerklüfteten Wänden und weiss gedeckten Türmen der Sellagruppe näher. Den Weg fänden wir auch ohne Skilehrer und Pistenplan: Es genügt, den Schildern «Grande Guerra» zu folgen.
Eisige Böen zwischen den dunklen Zacken
Ab dem Passo Campolongo verlaufen die Gebirgsjäger- und die Sellarunde kurz parallel. Und sofort profitieren wir vom grossen Publikumsmagneten. In Arabba wurde 2015 eigens ein neuer Lift über die Pordoijoch-Strasse gebaut, der die Sella Ronda bequemer macht. «Davor musste man die Ski abschnallen und durchs Dorf zur anderen Talstation tragen», erzählt Frenademetz.
Für unsere Tour rechnen sich solche Investitionen offenbar nicht. Mit einem uralten Zweierlift surren wir wenig später hinauf zum Passo Padon. Statt auf beheiztem Polster sitzt man hier noch auf harten Plastikstäben. Ein eisiger Wind pfeift von den Zacken des Padonkamms herab. Ihr Fels sei Vulkanit, versteinerte Lava, erklärt Frenademetz. «Deshalb sind die Felsen so dunkel.»
Im Laufschritt zum Skibus
Die lange Abfahrt nach Malga Ciapela gerät im Gewimmel rasanter Skifahrer zur Nervenprobe – zumal die Minuten bis zur Abfahrt des Skibusses davon ticken. Mit geschulterten Skiern stapfen wir eilig vorbei an der wuchtigen Talstation der Marmolada-Seilbahn. Die Piste dort oben auf dem Gletscher soll grandios sein. Ein anderes Mal.
Knapp 20 Minuten kurven wir im Bus durch schattige Täler und Dörfer, die wesentlich rustikaler wirken als La Villa oder das benachbarte Corvara. Manche Bauernhöfe haben Jahrhunderte alte, einfach gezimmerte Holzbalkone. Von Chalet-Schick keine Spur mehr.
Die Fahrt endet am Eisstadion von Alleghe. Entlang der kolossalen Wände des Monte Civetta trägt uns die Seilbahn hinauf zum Col dei Baldi. Auf dem letzten Stück aber zieht der gewaltige Stufentempel des Monte Pelmo alle Blicke auf sich.
Für ausgiebiges Bestaunen fehlt leider die Musse. Die nächsten beiden Pisten müssen wir zügig fahren, um den zweiten Bus zu erwischen. «Danach kommt zwei Stunden keiner mehr», warnt Frenademetz.
Pünktlich schwingen wir in Pescul ein. Im warmen Bus wird es schnell still. Während wir über Serpentinen die schneefreien Südhänge hinauf tuckern, fallen einigen die Augen zu.
Die erholsame Fahrt endet am Rifugio Fedare. Hier beginnt das Nobel-Skigebiet von Cortina d'Ampezzo, das 2026 zum zweiten Mal zur Bühne für Olympische Winterspiele wird. Bei der Fahrt hinauf zur Averau-Scharte möchte man das kaum glauben: Der Lift aus den 1970ern mit verrosteten Seilrollen und klapprigen Sitzen wirkt eher wie ein Kandidat fürs Skimuseum.
Einst waren es fünf Türme
«Früher fuhr man von hier zu den Cinque Torri ab», erzählt Frenademetz, «und unten an der Strasse nahm man den Bus zum Falzarego-Pass.» Seit im Jahr 2008 ein neuer Lift gebaut wurde, ist die dritte Busfahrt der Rundtour weggefallen. Den Abstecher zur Felsformation Cinque Torri will Frenademetz trotzdem machen. «Wir haben genug Zeit», sagt er. Und die Piste sei einfach zu schön.
Stimmt vollkommen. Vorbei an den fünf Türmen, von denen einer 2004 umgekippt ist, wedeln wir hinein in ein Amphitheater aus zerklüfteten Felswänden. Vor uns erheben sich der Dreizack der Tofane und, wie eine Reihe spitz gefeilter Zähne, der Kamm der Croda da Lago.
Abfahren unter Eisfällen
Ein kalter Wind pfeift uns von nun an ins Gesicht, die Pisten im letzten Drittel der Runde sind hart und eisig. Die gute Laune trübt das nicht. Dramatisch leuchtet die tiefstehende Sonne die Türme, Nadeln und Zinnen ringsum aus, selbst ansonsten fade Ziehwege werden mit dieser Kulisse zum Genusslauf. Die Krönung ist die Aussicht von der Terrasse der Lagazuoi-Hütte, aus 2778 Metern Höhe – und die finale, siebeneinhalb Kilometer lange Abfahrt.
Während wir die leere Piste hinunter kurven, wachsen die Felswände über uns immer höher in den Himmel. Und dann, gleich hinter der hübschen Scotoni-Hütte, hängen plötzlich gigantische Eiszapfen über der Piste – an denen Kletterer empor kraxeln. Manchmal reichen die Eisfälle bis zur Abbruchkante, rund 80 Meter hoch. Diesen Winter sind sie nur halb so gross und trotzdem beeindruckend.
Als wir im Tal ankommen, sind die Taxi-Pferde schon weg. Im Zweiergespann ziehen sie an einem Seil sonst bis zu 100 Skifahrer – aber eben nur bis 16 Uhr. Im Skatingschritt schnaufen wir das letzte Stück leicht bergauf, spätestens jetzt brennen die Oberschenkel.
Aber wer zu spät bekommt, den belohnen die Dolomiten, wenn die untergehende Sonne sie anstrahlt: mit dem Alpenglühen.