Erste Intensivstationen in Europa überlastet
Zu wenig Intensivbetten, Mangel an Personal: Viele Ländern scheinen dem Ansturm der Corona-Patienten nicht mehr lange standhalten zu können. Auch die WHO warnt vor Überlastungen der Krankenhäuser.
Das Wichtigste in Kürze
- Angesichts rapide steigender Corona-Infektionen hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) vor einer Überlastung von Intensivstationen vor allem in Europa und Nordamerika gewarnt.
«Viele Länder auf der Nordhalbkugel sehen derzeit einen besorgniserregenden Anstieg von Fällen und Einweisungen ins Krankenhaus», sagte WHO-Chef Tedros Adhanom Ghebreyesus in Genf. An einigen Orten füllten sich die Intensivstationen schnell.
Wie eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur am Dienstag ergab, sind teils die Kapazitätsgrenzen sogar schon erreicht. Dies gilt unter anderem für Regionen in Belgien, Grossbritannien und Tschechien.
So sind in der belgischen Provinz Lüttich Dutzende Ärzte und Pfleger in den völlig überlasteten Kliniken nach Angaben von Gewerkschaftern trotz Corona-Infektion im Dienst.
«Wir müssen wählen zwischen einer schlechten und einer sehr schlechten Lösung», sagte Philippe Devos vom Verband der medizinischen Gewerkschaften der Deutschen Presse-Agentur. Die sehr schlechte Lösung sei, Patienten gar nicht zu behandeln. Belgien ist nach Angaben der EU-Seuchenbehörde ECDC EU-weit das Land mit den meisten Corona-Infektionen binnen 14 Tagen pro 100.000 Einwohner - dieser Wert lag bei 1390,9. Patienten wurden auch über die deutsche Grenze nach Aachen verlegt.
Auch in Grossbritannien ist die Lage sehr angespannt. Die Kapazität erster Kliniken etwa im Grossraum Manchester ist Medienberichten zufolge erschöpft. Das Problem: Der staatliche Gesundheitsdienst NHS ist chronisch unterfinanziert. Schon bei einer Grippewelle im Winter können viele Kliniken dem Ansturm der Patienten nicht Herr werden.
Tausende Operationen wurden bereits abgesagt, die Regierung liess mehrere provisorische Kliniken errichten. Schon während der ersten Ausbruchswelle starben viele Ärzte und Krankenpfleger. Da es nicht ausreichend Schutzkleidung und Masken gab, hatten einige sogar versucht, sich mit Müllbeuteln gegen das Virus zu wappnen. An Tests mangelt es noch heute. Nach Angaben der Statistikbehörde gibt es über 61.000 Totenscheine, auf denen eine Corona-Infektion vermerkt ist.
Tschechien hat drastische Massnahmen wie eine nächtliche Ausgangssperre beschlossen, um eine innerhalb von zwei Wochen erwartete Überlastung der Krankenhäuser doch noch zu verhindern. Das Gesundheitsministerium ordnete an, in allen Kliniken planbare Operationen zu verschieben. Von den insgesamt knapp 4000 Intensivbetten sind nur noch rund 1100 für Covid-Erkrankte und alle anderen Patienten verfügbar. Grosse Sorgen bereitet der Personalmangel. Mehr als 13.000 Mitarbeiter im Gesundheitswesen haben sich nach Angaben der Ärztekammer selbst mit Corona infiziert. Die meisten arbeiten weiter, wenn sie keine Symptome zeigen.
In Russland ist besonders die Hauptstadt Moskau betroffen, wo auch provisorische Hospitäler gebaut wurden. Nach offiziellen Zahlen vom Dienstag wurden dort innerhalb eines Tages mehr als 1200 Covid-19-Kranke in Kliniken gebracht. Aus den Regionen gibt es Medienberichte, wonach viele Krankenhäuser bereits überlastet sind, Patienten auf den Fluren behandelt werden und Ärzte fehlen.
Düster sind die Aussichten für kleine Länder wie Litauen und Lettland. «Wenn es so weitergeht, könnte das Gesundheitssystem, eines der schwächsten in Europa, in einem Monat zusammenbrechen», sagte Liene Cipule, Leiterin des Notfalldienstes, im lettischen Parlament.
Auch in Ungarn und den Balkanstaaten sorgen sich Experten, weil das Gesundheitswesen vielerorts unterfinanziert ist. In Rumänien müssen mancherorts die Ärzte entscheiden, wer noch einen Platz auf der Intensivstation bekommt - die Jüngeren haben dabei Priorität.
In Frankreich ist die Lage insbesondere in Paris und im Südosten des Landes angespannt. Am Montag waren rund 2770 Schwerkranke auf Intensivstationen - das ist etwa knapp die Hälfte der Gesamtkapazität. Auch viele Regionen in Spanien geraten unter Druck. In Madrid und Aragón sind schon über 40 Prozent der Intensivbetten mit Covid-19-Patienten belegt. In Italien warnten die Behörden bereits vor einer «hohen Wahrscheinlichkeit», dass in verschiedenen Regionen bald die Kapazitäten nicht mehr ausreichen könnten.
In Deutschland mangelt es zwar nicht an Intensivbetten, wohl aber an Pflegepersonal. Das sagte der Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, Uwe Janssens, den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Dienstag). Es gebe inzwischen zwar «ausreichend Kapazitäten an freien Intensivbetten und Beatmungsgeräten». Das allein helfe aber nicht weiter, «wenn wir kein Personal haben, um die Patienten zu versorgen». Hierin liege «das viel grössere Problem». Grob geschätzt fehlten bundesweit 3500 bis 4000 Fachkräfte für die Intensivpflege, sagte Janssens.
Die Covid-Taskforce der Schweizer Regierung schätzt nach einem Medienbericht, dass die Intensivbetten Mitte November voll belegt sein werden, falls die Ansteckungen weiter so zunehmen. In Österreich gibt es noch Platz auf den Intensivstationen: Von den rund 2500 Intensivbetten stehen der Gesundheitsbehörde Ages zufolge rund 840 für Corona-Patienten bereit, von denen am Dienstag 203 belegt waren.
Die niederländischen Krankenhäuser können dem Druck durch die steigende Patientenzahl kaum standhalten. Viele Operationen wurden abgesagt. Etwa jedes zweite Bett auf Intensivstationen ist inzwischen mit einem Covid-19-Patienten belegt. Die ersten zwei Patienten wurden bereits nach Münster ausgeflogen. Weitere sollen folgen.
Deutlich entspannter ist die Lage in den fünf nordischen Ländern Dänemark, Schweden, Norwegen, Finnland und Island. Ein leitender Arzt sagte, dass weiter massig Platz in den dänischen Krankenhäusern sei.
Seit Beginn der Pandemie sind weltweit mehr als 40 Millionen Infektionen nachgewiesen worden. Mehr als eine Million Menschen sind in Zusammenhang mit einer Covid-19-Erkrankung gestorben.
Der WHO-Chef äusserte Verständnis dafür, dass viele Menschen eine «Pandemie-Müdigkeit» fühlten. Die psychische und physische Belastung durch das Arbeiten von zu Hause sowie die Distanz zu Freunden und Familie sei hoch. Dennoch dürften die Menschen nicht aufgeben. Vor allem aber müssten die Gesundheitssysteme geschützt werden und die Menschen, die für sie arbeiteten. Die WHO rief die Menschen dazu auf, alle Vorsichtsmassnahmen zu treffen, um Ansteckungen zu vermeiden. Nur so könnten auch weitere Lockdowns vermieden werden.