Gibt es einen Wettkampf in der Frühchen-Medizin?
Die kleine Melina wiegt weniger als ein Pfund, als sie nach kurzer Schwangerschaft als Rekord-Frühchen auf die Welt kommt. Dem Klinikum Fulda gelingt es, das Leben des Mädchens zu retten. Doch Kritiker beäugen die Entwicklung in der Neugeborenen-Medizin auch kritisch.
Das Wichtigste in Kürze
- Im Klinikum Fulda prasselten die Superlative nur so hernieder.
Es ging zwar um nüchterne Fakten, aber auch Emotionales, um das Aussergewöhnliche mit Worten fassen zu können.
Mehr als ein halbes Dutzend Akteure - hauptsächlich Ärzte und medizinisches Personal - war im Hörsaal des Klinikums angetreten, um vom grossen Wunder um ein kleines Mädchen zu berichten. Das Krankenhaus stellte Details zum zweiten «jüngsten Frühchen der Welt» vor.
Geburt nach 21 Schwangerschaftswochen
Am Morgen des 5. März 2019 kam die kleine Melina zusammen mit ihrem Zwillingsbruder überraschend bei einer Notgeburt daheim in Lauterbach (Vogelsbergkreis) zur Welt. Mit einem Rettungswagen wurden die Säuglinge eilends ins gebracht. Dass sie dort lebend ankamen, sei schon mal das erste «Wunder» gewesen. «Unglaublich» nannte dies der Direktor der Kinderklinik, Reinald Repp, im Rückblick. Denn die Schwangerschaft der Frau, die vorerst mit ihrem Mann anonym bleiben möchte, währte nur kurz. Sehr kurz. 21 Wochen und vier Tage, hiess es von Seiten des Klinikums. Normal sind 40 Wochen.
Am Transport des Rettungsdienstes beteiligt war auch Christopher Stöhr: «Das war kein alltäglicher Einsatz. Als ich später hörte, dass wir Melina den Start ins Leben ermöglicht haben, war es überwältigend.» Im Klinikum Fulda kämpfte dann das medizinische Experten-Team monatelang um das Leben und die Gesundheit des bei ihrer Geburt nur 450 Gramm schweren 25,5 Zentimeter langen Mädchens. Am 22. April durfte es nach gut 13 Monaten Behandlung nach Hause. Ihr Zustand sei den Umständen entsprechend gut, sagte Repp. Doch eine sorgenfreie Entwicklungsperspektive kann er ihr nicht zusichern.
Melinas Zwillingsbruder schaffte es nicht. Er starb noch am ersten Tag. Mädchen haben nach übereinstimmender Expertise als extrem junge bessere Überlebenschancen - warum weiss man nicht. Melina ist nun zusammen mit einem im Jahr 2014 in den USA geborenen Kind das jüngste Frühchen der Welt, wie das Klinikum Fulda nach Recherchen in wissenschaftlichen Fundstellen erklärte. In Fulda haben sie grosse Erfahrung und erzielen sehr gute Behandlungsergebnisse mit Frühchen. Bereits im Jahr 2010 kam dort Frühchen Frieda zur Welt. Nach 21 Wochen und fünf Tagen. Frieda war damals - zusammen mit einem Kind aus Kanada, das jüngste Frühchen der Welt, das die Geburt überlebte.
Folgeschäden erst im Laufe der Zeit sichtbar
In den vergangenen Jahr kommen immer mehr extrem unreife Kinder zur Welt. Aufgrund des medizinischen Fortschritts kann ihnen der Weg ins Leben geebnet werden, etwa durch bessere Beatmungsmethoden. Doch wo sind die Grenzen? Was ist noch verantwortbar? Denn nicht wenige der extrem unreifen Kinder tragen Auffälligkeiten, Gesundheitsprobleme, Schäden oder gar schwere Behinderungen davon. Deswegen warnt auch eine wissenschaftliche Fachgesellschaft vor einem Wettbewerb von Medizinern und Kliniken gewarnt. «Ich halte nichts von der Diskussion um Rekord-Frühchen», sagte die Präsidentin der Gesellschaft für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin (GNPI), Ursula Felderhoff-Müser, der Deutschen Presse-Agentur.
Die Universitäts-Professorin (Essen) erläutert: «Die Leistung ist nicht nur, dass die extrem unreif geborenen Kinder überleben, sondern auch wie danach die Lebensqualität ist. Bei vielen sehr jungen Frühchen werden erst im Laufe der Zeit die sichtbar. Es sollte kein Wettlauf entstehen, wer die jüngsten Frühchen überleben lässt.»
Im Zweifel für das Leben
Der Vorstandssprecher des Klinikums Fulda, Thomas Menzel, versicherte, es gehe ihnen nicht um einen Wettkampf oder eine Tabelle, wer das jüngste Frühchen behandelt habe. Der Leiter der Fuldaer Kinderklinik, Reinald Repp, betonte auch, man habe nicht gewusst, wie alt die Kinder waren, als sie mit dem Notarztwagen eingeliefert wurden. Mit Blick auf die Behandlungserfolge der vergangenen Jahre - wie sie von einem Fachinstitut (IQTIG) bescheinigt werden - hätten sie im Klinikum aber Zuversicht gehabt, Melina zu behandeln: «Wir versuchen, die medizinischen Möglichkeiten mit dem Mut, sich zum Leben zu bekennen, zu verbinden.» Im Zweifel müsse man sich immer fürs Leben entscheiden.
Deutschen zufolge müssen Frühchen, die vor der 24. Schwangerschaftswoche zur Welt kommen, nicht lebenserhaltend behandelt werden. Doch die Eltern wollten das Melina eine Chance bekommt und willigten den bevorstehenden Anstrengungen. Nun sind sie überglücklich und dankbar für die Arbeit von Medizinern und Schwestern, wie sie laut Angaben des Klinikums mitteilen liessen.
Bei derart unreif geborenen Kindern wie Melina bestehen grosse Risiken. Sie haben häufig Probleme mit Lunge, Hirn, Darm und Augen, die bis zum Erblinden führen können. Melina musste rund zweieinhalb Monate künstlich beatmet werden. Und ganz ohne Hilfe geht es immer noch nicht. «Wir hoffen, dass Melina in ein paar Monaten ganz ohne Atemunterstützung und ohne zusätzlichen Sauerstoff auskommen wird.» Dagegen spricht sie schon recht gut für ihr Alter. «Mama und Papa sagt sie schon», berichtete Repp glücklich.
Überlebenschancen von extrem jungen Frühchen
Von einer Frühgeburt spricht man, wenn ein Baby vor Vollendung der 37. Schwangerschaftswoche zur Welt kommt. Eine normale Schwangerschaft dauert 40 Wochen. Wegen der nicht abgeschlossenen Entwicklung drohen vor allem extremen Frühchen gesundheitliche Probleme, die bis zu schweren Behinderungen reichen können. Häufigste Spätfolgen sind Entwicklungsverzögerungen, Atemwegserkrankungen, motorische Störungen, Aufmerksamkeitsprobleme und Essstörungen.
Die Neugeborenen-Medizin hat in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten grosse Fortschritte gemacht. So lag die Überlebenschancen von Frühchen die nach 28 Schwangerschaftswochen in Deutschland zur Welt kamen in den 1980er Jahren gerade einmal bei zehn Prozent. Mittlerweile sind es 97 Prozent, wie der Leiter der Fuldaer Kinderklinik, Reinald Repp, sagte.
Die Gesellschaft für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin (GNPI) verweist auf eine Studie aus 27 OECD-Ländern in den Jahren 2000 bis 2017: Wer mit 22 Wochen geboren wurde, hat eine Überlebenschance von 24 Prozent. Bei 23 Wochen liegt sie bei 38 Prozent, bei 24 Wochen bei 60 Prozent und bei 25 Wochen bei 76 Prozent. Frühchen aus der 22. Wochen haben zu 61 Prozent schwere Erkrankungen danach. In der 23. Woche liegt diese Wahrscheinlichkeit bei 50 Prozent.