London und Brüssel nach dem Brexit unter Zeitdruck
Wegen des Coronavirus mussten die Chefunterhändler beider Seiten in Quarantäne. Nun reden sie wieder. Aber die Differenzen sind gross und die Frist ist knapp.
Das Wichtigste in Kürze
- Nach wochenlanger Zwangspause in der Corona-Krise wollen die Europäische Union und Grossbritannien endlich die Klärung ihrer künftigen Handelsbeziehungen vorantreiben.
Beide Seiten starteten die erste von drei einwöchigen Verhandlungsrunden per Videokonferenz. Die Zeit drängt, denn zum Jahresende endet die Brexit-Übergangsfrist. Gelingt bis dahin kein Abkommen, droht ein harter Bruch mit heftigen Turbulenzen für die Wirtschaft.
Grossbritannien war Ende Januar aus der EU ausgetreten. Doch in der Übergangsphase hat sich wenig geändert. Grossbritannien gehört weiter zum EU-Binnenmarkt und zur Zollunion, hält sich an EU-Regeln und zahlt in den Haushalt ein. Geklärt werden soll nun, wie eng beide Seiten künftig zusammenarbeiten, ob es Zölle und Warenkontrollen gibt, ob Fischer noch in den Gewässern des anderen fischen dürfen und viele andere Fragen.
Nach einer ersten Verhandlungsrunde Anfang März hatten beide Seiten festgestellt, dass ihre Vorstellungen weit auseinanderliegen. Am 19. März gab EU-Unterhändler Michel Barnier eine Infektion mit dem Coronavirus bekannt, und auch sein britischer Kollege David Frost begab sich in Quarantäne. Zuletzt liefen nur Expertengespräche über mögliche Vertragstexte. Nun müssten bis Juni greifbare Fortschritte erzielt werden, bekräftigte Barnier auf Twitter. Er werde am Freitag über Ergebnisse informieren.
Der Bundesverband der Deutschen Industrie warnte, der Brexit treffe die Unternehmen zusätzlich zur Corona-Krise. «Noch fataler wären die Auswirkungen bei einem Ende der Übergangsphase ohne Folgeabkommen», sagte BDI-Hauptgeschäftsführer Joachim Lang der Deutschen Presse-Agentur. «Die Zeit ist mehr als knapp.» Die Unterhändler müssten sämtliche Optionen des Austrittsvertrags genau prüfen, «um einen harten Bruch unbekannten Ausmasses zu verhindern».
Der Austrittsvertrag legt fest, dass die Übergangsfrist um ein oder zwei Jahre verlängert werden kann, wenn sich beide Seiten bis Juni darauf verständigen. Doch Grossbritannien sagt Nein. Die britische Regierung will die EU-Regeln endlich hinter sich lassen und Beitragszahlungen vermeiden, die bei einer längeren Übergangsphase auf sie zukämen.
Zur neuen Verhandlungsrunde sagte eine britische Regierungssprecherin nur: «Wir erwarten weiterhin konstruktive Gespräche mit dem Ziel, noch vor Juni Fortschritte zu machen.» Es solle auf den bisherigen Gesprächen aufgebaut werden. Dabei habe man festgestellt, bei welchen Themen es Einigkeit und wo es noch Differenzen gebe.
Der Brexit-Beauftragte des EU-Parlaments, David McAllister, bedauerte, dass wegen der Pandemie Zeit verloren worden sei. Auch seien digitale Verhandlungen erfahrungsgemäss schwieriger als direkte Gespräche. Dennoch sei zu hoffen, dass beide Seiten zu vertretbaren Ergebnissen kämen, erklärte der CDU-Politiker.
Die Grünen-Europaabgeordnete Anna Cavazzini warnte: «Der ohnehin extrem knapp angesetzte Zeitplan ist kaum noch zu halten. Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, bis Ende des Jahres ein Verhandlungsergebnis zu erzielen, wo andere Handelsabkommen über Jahre verhandelt werden.» Die EU müsse deshalb darauf hinwirken, die Verhandlungen zu verlängern.
Die SPD-Europapolitikerin Katarina Barley hält eine Fristverlängerung jedoch für unwahrscheinlich, wie sie dem SWR sagte. Premierminister Boris Johnson und seine Regierung seien erpicht darauf, den Brexit zu vollenden. Der Zeitdruck verbessere die Position aber nicht. Chefunterhändler Barnier werde nichts Unvernünftiges tun.