Ukraine Krieg: Ex-Russen-Soldaten fordern andere zum Desertieren auf
In Keller eingesperrt oder lange Haftstrafen: Flüchtigen Soldaten drohen in Russland heftige Strafen. Desertiert wird trotzdem – zwei haben darüber gesprochen.
Das Wichtigste in Kürze
- Zwei russische Deserteure sprechen in einem Interview über den Krieg und über die Flucht.
- Die beiden erklären, welche Strafen einen Flüchtigen in Russland erwarten.
- Die Desertion wäre dennoch die richtige Entscheidung, denn der Krieg sei verwerflich.
Artyom, ein ehemaliger Zugführer der russischen Armee, hat sich entschieden, dem Ukraine-Krieg und dem Militär den Rücken zu kehren. In einem Interview mit dem «Guardian» spricht er über seine Zeit als Soldat – und seine Desertion. Aus Sicherheitsbedenken will er seinen Nachnamen nicht angeben.
Ukraine-Krieg: «Hätte früher Nein sagen können»
Vor zwei Wochen war er noch mitten im Ukraine-Krieg und lebte in Schützengraben. Heute sitzt er in einem versteckten Studio im Zentrum von Jerewan, Armenien, und spricht über seine Flucht. «Ich wollte nicht an diesem Krieg teilnehmen», sagt Artyom.
Trotz seiner Antikriegshaltung empfindet er eine tiefe Schuld der Ukraine gegenüber. «Ich hätte früher Nein sagen können», gesteht er mit Bedauern. Artyom ist nur einer von vielen russischen Soldaten, die in den letzten 20 Monaten vom Ukraine-Krieg geflüchtet sind.
Als Teenager klang das Militär «prestigeträchtig»
Schon als Teenager trat Artyom einer Militärschule bei – die Armee klang prestigeträchtig für ihn. Doch schnell wurde ihm klar: Dies war nicht das Leben, das er sich vorgestellt hatte.
In seinen Erzählungen tauchen Soldaten auf, die in Kellern eingesperrt wurden, weil sie sich weigerten zu kämpfen. Geschichten, die mehrere unabhängige russische Nachrichtenorganisationen bestätigen. Auch ihm wurde mit Gefängnis gedroht, sollte er es wagen, seinen Posten zu verlassen.
Artyoms Chance zur Flucht vor dem Ukraine-Krieg kam dann letzten Monat – und er ergriff sie. Mithilfe einer russischen Anti-Kriegs-Organisation gelang es ihm, nach Armenien zu fliehen. Dort trifft er auf Aleksei, einen weiteren Deserteur, auch er will gegenüber der britischen Zeitung unkenntlich bleiben.
«Sind nur Fleisch für die Kriegsmaschinerie»
Aleksei wurde als Teil der Mobilisierung von Präsident Putin im September 2022 einberufen. «Ich war schockiert», sagt Aleksei und beschreibt den Mangel an Ausrüstung und grundlegender Ausbildung für Rekruten wie ihn.
Uniformen und Kleidung mussten sie mit ihrem eigenen Geld bezahlen. «Wir merkten schnell, dass wir nur Fleisch für die Kriegsmaschinerie sein würden», so der Deserteur.
In der Ukraine angekommen, realisierte Aleksei schnell: Er nahm an einer illegalen Invasion teil. «All diese Geschichten über irgendwelche Nazis in der Ukraine, der Grund, warum wir den Kampf begonnen haben, das sind nur leere Worte.»
Aleksei spricht offen über seine täglichen moralischen Dilemmata als Soldat in einem Krieg, den er für falsch hält. «Ich fühlte mich verantwortlich für mein Team», sagt er und gesteht gleichzeitig: «Indem ich Kommunikationslinien aufbaute, tötete ich indirekt andere Menschen».
Ungewissheit bei Aleksei und Artyom
Beide Männer wurden bei ihrer Flucht von der in Georgien ansässigen Anti-Kriegs-Organisation Idite Lesom unterstützt. Der Gründer, Grigory Sverdlin, sagt, seine Gruppe habe bisher mehr als 500 russischen Soldaten zur Desertion verholfen.
Die Zukunft von Artyom und Aleksei bleibt ungewiss. Beide hoffen auf Asyl in einem westlichen Land. Doch das könnte sich als schwierig erweisen: Im Westen gibt es keine einheitliche Haltung zu Asylanträgen von Männern, die dem Militärdienst oder dem Kampf entfliehen.
Trotz der Unsicherheit über seine Zukunft versucht er andere Soldaten zu diesem Schritt zu motivieren: «Es gibt keinen Grund, an diesem verbrecherischen Krieg teilzunehmen. Es gibt nichts Heiliges daran. Es gibt immer einen Ausweg.»