Ukraine-Krieg: Ist Gefangenenaustausch ein Schritt Richtung Frieden?
In einem historischen Deal haben Russland und der Westen Gefangene ausgetauscht. Wem hilft das? Hat es Auswirkungen auf den Ukraine-Krieg? Experten ordnen ein.
Das Wichtigste in Kürze
- Russland und der Westen haben zahlreiche Gefangene ausgetauscht.
- Biden und Putin feiern den Erfolg des Mega-Deals, der diplomatische Kanäle offenbart.
- Experten sind uneins: Ist der Austausch ein erster Schritt zum Frieden?
Es ist der grösste Gefangenaustausch seit dem Kalten Krieg: Unter Vermittlung der Türkei liessen Russland und der Westen am Donnerstag Gefangene frei.
So ist der in Russland verurteilte US-Journalist Evan Gershkovich wieder frei – wie auch prominente russische Oppositionspolitiker. Aber auch Agenten und Kriminelle wie der russische «Tiergartenmörder» Wadim Krassikow, der in Berlin zu lebenslanger Haft verurteilt worden war.
Nicolas Hayoz, Professor für Osteuropa-Studien an der Uni Freiburg, fasst gegenüber Nau.ch zusammen: «Hier ging es vor allem um den Austausch von russischen Kriminellen gegen politische Gefangene in Russland. Und Angehörige ausländischer Nationen, die für nichts und wieder nicht ins Gefängnis mussten.»
Verwunderlich ist der Austausch allemal. Schliesslich sind die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen seit dem Ukraine-Krieg auf einem Tiefpunkt.
«Gesprächskanale sind offen»
«Der Austausch zeigt, dass nach wie vor Gesprächskanale offen sind», schätzt Russland-Experte Ulrich Schmid der Uni St. Gallen gegenüber Nau.ch ein. «Es ist vor allem ein diplomatischer Erfolg für die Türkei, die eine Vermittlerposition einnehmen könnte.»
Sowohl die USA als auch Russland verbuchen den Mega-Deal als Erfolg.
«Es ist ein wunderbares Gefühl», sagte US-Präsident Joe Biden. Und: «Ich war absolut überzeugt, dass wir das schaffen können.» Der russische Präsident Wladimir Putin nahm die Kriminellen persönlich in Empfang und sprach davon, ihnen Orden verleihen zu wollen.
Die positiven Reaktionen von Biden und Putin deuten darauf hin, dass die Vorteile für beide Seiten überwogen, so Schmid.
«Biden und indirekt Harris können vor der Präsidentschaftswahl darauf hinweisen, dass sie Verhandlungserfolge erzielen können. Putin befindet sich in einem Spiegelszenario zum Tod von Prigoschin: Verräter wie Prigoschin sterben, ‹Helden› wie Krassikow werden nicht im Stich gelassen und für ihre selbstlose Loyalität zum Staat belohnt.»
Jewgeni Prigoschin (†62) war Chef der russischen Söldner-Truppe Wagner. Aus Frust über die ausbleibenden russischen Erfolge im Ukraine-Krieg zündete er 2023 einen Aufstand an. Zwei Monate später kam Prigoschin bei einem Flugzeugabsturz ums Leben.
Experten uneins über Auswirkung auf Ukraine-Krieg
Der Gefangenenaustausch zeigt auf: Die Gesprächskanäle zwischen Russland und dem Westen sind nicht komplett abgebrochen. Ist der Gefangenenaustausch ein erster Schritt in Richtung Frieden im Ukraine-Krieg?
«Das ist nicht ausgeschlossen», sagt Schmid. Erst kürzlich hat Wolodymyr Selenskyj die Möglichkeit von territorialen Abtretungen an Russland mittels Referendums eingeräumt.
«Sowohl Russland als auch die Ukraine befinden sich in einer schwierigen Kriegssituation. Ein gesichtswahrender Frieden wäre für beide Seiten ein positives Szenario.»
Experte uneinig über Auswirkungen auf Ukraine-Krieg
Weniger optimistisch zeigt sich Andreas Umland, Analyst am Stockholmer für Osteuropa-Studien. Grund: «Beim Gefangenenaustausch wurden keine ukrainischen Leute freigelassen. Die Territoriumsansprüche bestehen auf beiden Seiten weiter», sagt er zu Nau.ch.
Zudem verweist Umland darauf, dass es bereits zum Austausch von Gefangenen zwischen Russland und der Ukraine gekommen ist. «Das hat mit Blick auf einen möglichen Frieden nicht viel gebracht.»
Ähnlich sieht das Osteuropa-Experte Nicolas Hayoz. «Nein, das hat damit nichts zu tun. Das sind zwei verschiedene Schienen», sagt er.
Und auch der Nationale Sicherheitsberater der USA, Jake Sullivan, dämpfte entsprechende Erwartungen. «Aus unserer Sicht laufen diese in getrennten Bahnen», sagte er.
Andreas Umland sieht «keinen grossen Umschwung» für die russisch-amerikanischen Beziehungen nach dem Gefangenenaustausch. «Am Deal gab es von beiden Seiten vor allem nationale Interessen.»
Westen steht «Russland hilflos entgegen»
Den Deal bezeichnet der Osteuropa-Experte aus westlicher Sicht als «zweischneidig». Schliesslich musste man als Kompromiss auch die Freilassung von Kriminellen wie dem «Tiergartenmörder» zustimmen.
Nicolas Hayoz führt aus: «Man muss sehen, dass Demokratien in dieser Hinsicht gegenüber einer Diktatur wie Russland eher hilflos gegenüberstehen. Ein Putin wird all seinen Schergen immer wieder sagen können: Falls euch was passiert im Ausland, werde ich euch herausholen.»
Aber auch aus russischer Sicht habe der Austausch nicht nur Vorteile, wie Andreas Umland erklärt: «Mit Wladimir Kara-Mursa, Ilja Jaschin und Andrej Piwowarow sind nun wichtige Identifikationsfiguren der russischen Opposition frei. Diese könnten nach dem Tod von Alexei Nawalny eine Lücke füllen – und so Putin gefährlich werden.»