Ukraine-Krieg: Täuscht Russland mit Cherson-Rückzug die Welt?
Russland will sich aus der ukrainischen Stadt Cherson zurückziehen. Manche Experten befürchten, dass der Abzug auch eine Falle sein könnte.
Das Wichtigste in Kürze
- Russland wird sich aus Cherson zurückziehen! Grosser Sieg für die Ukraine?
- Manche Beobachter mahnen zur Vorsicht und in dem Rückzug eine tödliche Falle.
- Der Grund: Soldaten sollen sich in Privathäusern einquartiert haben.
Unter dem Druck ständiger ukrainischer Angriffe hatte der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu am Mittwoch den Abzug seines Militärs aus Cherson und der gesamten Region um die Stadt angeordnet. Moskau nannte den Abzug eine «militärischen Notwendigkeit» und «Umgruppierung der Kräfte».
Cherson ist die einzige Provinzhauptstadt, die Russland seit dem Einmarsch in die Ukraine einnehmen konnte – und bislang auch heftig verteidigte. Ein Sieg also für die Ukraine, die das Gebiet seit Monaten teilweise zurückerkämpft hat?
Manche Beobachter mahnen zur Vorsicht und sehen im Rückzug der Russen eine tödliche Falle. Der Grund: Zwar würden Truppen abgezogen, die Stadt selbst sei aber seit Monaten bereits von Soldaten in Zivil bevölkert, die sich in Privathäusern einquartiert hätten. Die russischen Truppen scheinen wie Partisanen für den Häuserkampf bereitzustehen.
Militär-Experte: «Ist der Rückzug der Russen echt?»
Der ukrainische Militäranalyst Oleh Zhdanov äussert sich gegenüber der «Welt» wie folgt: «Die Russen wollen zeigen, dass Kiews Gegenoffensive vom Kreml mit aller Härte beantwortet wird. Es ist beängstigend darüber nachzudenken, wie diese Antwort ausfallen könnte.» Zhdanov warnt: «Sollten die Russen Cherson verlieren, dann werden sie es eher von der Landkarte tilgen, als es der Ukraine zu überlassen.»
Einen möglichen Bluff der Russen bringt auch australische Militärexperte und Ex-General Mick Ryan ins Spiel. In einem Thread auf Twitter fragt er: «Ist der Rückzug echt oder möglicherweise Teil einer Täuschungskampagne, um die Ukrainer in einem Kampf zu ziehen, auf den sich die Russen vorbereitet haben?»
Ryan findet es auch auffällig, dass die Rückzugankündigung von Schoigu und nicht von Putin gemacht wurde. «Gebietsabtretungen sollten eine politische Entscheidung sein; dies ist ein weiterer Beweis dafür, dass Putin eindeutig das Militär als Sündenbock für das russische Debakel in der Ukraine einsetzt.»
Andere Militärbeobachter sehen in dem Rückzug einen strategischen Knackpunkt für die Ukraine. Zwar kann Wolodymyr Selenskyj nun sagen, dass man Cherson befreit habe – da Cherson aber viel näher an der Front liegt als etwa Saporischja, drohe nun ein heftiger und andauernder Beschuss, ohne dass die Ukraine viel dagegen tun könne.
Kiew weist neues Moskauer Gesprächsangebot zurück
Auch Kiew reagierte skeptisch auf den angekündigten Truppenabzug von Russland in Cherson. Die ukrainische Führung hatte am Mittwoch auch ein neues Gesprächsangebot Moskaus zurückgewiesen und als «neue Nebelkerze» bezeichnet. «Russische Beamte beginnen, Gesprächsangebote immer dann zu unterbreiten, wenn die russischen Truppen Niederlagen auf dem Schlachtfeld erleiden», schrieb Aussenamtssprecher Oleh Nikolenko auf Facebook.
Mit dem neuen Dialogangebot spiele Russland lediglich auf Zeit, um seine Truppen neu zu sortieren und zu verstärken, und um dann «neue Wellen der Aggression» einzuleiten, so Nikolenko weiter. Ukraine-Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach am Mittwochabend in seiner täglichen Videoansprache zwar von «viel Freude» – «aber unsere Emotionen müssen zurückgehalten werden – gerade während des Krieges.»
In Moskau hatte Russlands Aussenministeriums-Sprecherin Maria Sacharowa am Nachmittag die Bereitschaft Russlands zu Gesprächen «auf Grundlage der aktuellen Realitäten» angeboten. Damit war der aktuelle Stand an den Fronten gemeint. «Wir sind weiterhin zu Gesprächen bereit, wir haben sie nie verweigert», sagte sie.
Kiew hat bereits mehrere Verhandlungsangebote aus Moskau abgelehnt, fordert als Vorleistung den kompletten Rückzug russischer Truppen aus der Ukraine, auch von der Halbinsel Krim.