Waffenruhe und Rückzug der Kurden - Triumph für Erdogan?
Erbitterte Kämpfe, unversöhnliche Worte - und nun die Überraschung: Die USA handeln mit der Türkei eine Kampfpause für Nordsyrien aus. Die Kurdenmilizen akzeptieren zunächst. Doch das Abkommen ist fragil.
Das Wichtigste in Kürze
- Der türkische Aussenminister Mevlüt Cavusoglu war nach dem Treffen mit der US-Delegation schon fast in Plauderlaune.
«Wir haben wirklich nicht gemerkt, wie so viele Stunden vergangen sind», erzählte er am Donnerstagabend.
Stundenlang hatten Türken und Amerikaner im Präsidialpalast in Ankara verhandelt. US-Vizepräsident Mike Pence mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan - und dann noch mal die Delegationen unter sich.
Pence trat danach zuerst in Ankara vor die Presse und verkündete, woran eigentlich niemand mehr geglaubt hatte: Man habe sich auf eine Waffenruhe geeinigt, die Türkei werde ihren Militäreinsatz gegen die Kurdenmiliz YPG fünf Tage lang stoppen, sagte Pence. Das solle den Kurdenmilizen die Gelegenheit geben, abzuziehen.
Ein überraschendes Ergebnis - hatte Erdogan doch kurz vor der Anreise der US-Delegation klargemacht, dass er weder mit «Terroristen» verhandele, wie er die YPG nennt, noch auf eine Waffenruhe eingehen werde und schon gar nicht Vermittler wie die USA brauche. Was bedeutet die Vereinbarung nun für die verschiedenen Parteien?
TÜRKEI: Was diese Vereinbarung für die Türkei bedeutet, hat Aussenminister Cavusoglu in einem Satz zusammengefasst: «Wir haben bekommen, was wir wollten.» Die Türkei erhielt tatsächlich das, was sie mit dem Einmarsch in Nordsyrien am 9. Oktober von Anfang an zu erreichen hoffte: den Rückzug der Kurdenmiliz aus der Grenzregion.
In der ersten gemeinsamen Erklärung der Türkei und der USA fand sich allerdings keine klare Eingrenzung der Zone, aus der die Kurdenmilizen sich zurückziehen sollen - und hier zeichnet sich neues Konfliktpotenzial ab. Der US-Sonderbeauftragte für die Anti-IS-Koalition, James Jeffrey, sagte noch in der Nacht zu Journalisten, aus Sicht der USA gehe es um ein Gebiet, in das die Türkei während ihrer Offensive schon vorgedrungen sei und wo zurzeit noch gekämpft werde. Auch für die kurdischen Kräfte im Nordosten Syriens galt die Vereinbarung nur für einen Teilabschnitt der Grenzregion zwischen den syrischen Städten Ras al-Ain und Tall Abjad.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sagte am Freitag in Istanbul allerdings, seine Regierung erwarte den vollständigen Rückzug der kurdischen Kämpfer von der syrisch-türkischen Grenze. Er sprach von einem 32 Kilometer breiten und 444 Kilometer langen Gebiet. Das entspricht der «Sicherheitszone», die die Türkei sich seit langem wünscht. Aus türkischer Sicht beginnt sie am Euphrat-Fluss und erstreckt sich gen Osten bis an die irakische Grenze. Erdogan sagte: «Bei den gestrigen Gesprächen haben wir uns darauf geeinigt, dass innerhalb dieser 120 Stunden (fünf Tage Waffenruhe) diese Region evakuiert werden soll.»
Später warnte er, dass die Türkei ihre Offensive wiederaufnehmen werde, sollte der Abzug nicht wie versprochen ablaufen. «Aber wenn dieses Versprechen nicht gehalten wird, ..., wird unsere Offensive Friedensquelle noch sehr viel entschlossener in der Minute fortgesetzt, in der die 120. Stunde endet.»
Die USA kommen der Türkei in einem anderen Punkt entgegen. Sie akzeptieren laut Abschlusserklärung, dass «vor allem» die türkischen Streitkräfte die Zone kontrollieren sollen. Und da kommt die Kurdenmiliz YPG ins Spiel.
KURDENMILIZEN: «Wir werden alles tun, damit die Waffenruhe ein Erfolg wird», sagte der Kommandant der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), Maslum Abdi, noch am Abend. Er machte aber auch deutlich, dass eine türkische Präsenz in der Gegend nicht akzeptiert werde. Aus Kreisen der SDF hiess es am Freitag, dass die Truppen erst abziehen wollen, wenn sich die Türkei in allen Gebieten an die Feuerpause halte. Allerdings gab es in der Grenzstadt Ras al-Ain am Freitag weiter Gefechte, wie die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte berichtete.
Der Traum einer weitgehenden Selbstverwaltung, wie ihn die Kurden im benachbarten Nordirak leben, dürfte für die syrischen Kurden nicht erst mit der Einigung in weite Ferne gerückt sein. Nach mehreren Jahren de-facto-Autonomie ist, auf einen Hilferuf der Kurdenmiliz hin, auch die syrische Armee wieder in ihrem Gebiet. Ein Berater von Präsident Baschar al-Assad machte deutlich, ein autonomes Modell wie im Irak werde es in Syrien nicht geben.
USA: Donald Trump bejubelte die Einigung - und vor allem sich selbst. «Das ist ein grossartiger Tag für die Zivilisation», sagte der US-Präsident. Ihm sei gelungen, was andere über Jahre nicht zustandegebracht hätten - auf «unkonventionelle» Weise und mit einer Mischung aus Härte und Liebe gegenüber der Türkei. Viele Menschenleben seien nun gerettet und alle Beteiligten glücklich. «Das ist ein unglaublicher Ausgang», meinte Trump. Wie bitte?
Die preisenden Worte des Präsidenten können kaum über das - selbst für seine Verhältnisse übergrosse - aussenpolitische Chaos hinwegtäuschen, das er in diesem Fall angerichtet hat: Mit dem US-Truppenabzug aus Nordsyrien Anfang Oktober hatte Trump der Türkei den Einmarsch dort überhaupt erst ermöglicht. Er liess die bisher mit den USA verbündeten Kurdenmilizen, so die von vielen Seiten auf ihn einprasselnde Kritik, kolossal im Stich, trieb sie in die Arme der syrischen Regierungstruppen und Russlands und riskierte ein Wiedererstarken der Terrormiliz IS in der Region.
Das sorgte in den USA parteiübergreifend für Empörung, selbst enge Verbündete aus der eigenen Partei griffen Trump scharf an, internationale Partner reagierten irritiert. Trump bemühte sich daraufhin um Schadensbegrenzung, verhängte halbherzige Sanktionen gegen die Türkei und drohte Ankara mit weiteren Strafmassnahmen, gar mit der Zerstörung der türkischen Wirtschaft.
Davon soll nun nichts bleiben: Die USA haben der Türkei eine Aufhebung der bisherigen Sanktionen in Aussicht gestellt. Eine nachwirkende Bestrafung für Erdogans Militäraktion gibt es nicht.
Am Ende steht ein Deal mit der Türkei, den die USA an sich schon früher hätten haben können. Lange sperrten sich die Amerikaner gegen die türkischen Vorstellungen von der sogenannten Sicherheitszone an der syrischen Grenze. Jetzt haben sie Erdogan - trotz dessen konfrontativer Strategie - zumindest teilweise zugestanden, was er die ganze Zeit wollte. Zu einem ungleich höheren politischen Preis - denn dazwischen liegen ein militärischer Konflikt mit vielen Toten, noch mehr Verletzten und einem grossen Ansehensverlust für die USA.