Warum fünf kleine EU-Staaten plötzlich im Rampenlicht stehen
Österreich, Schweden, Dänemark, Holland und Finnland sind im EU-Finanzpaket stark aufgetreten. Woher kommt ihre neue Rolle? Drei Europa-Experten erklären.
Das Wichtigste in Kürze
- Im EU-Finanzpaket haben die 5 «sparsamen Länder» die Geldbeträge stark heruntergehandelt.
- Dass sie in der EU diese Rolle innehaben ist neu. Das liegt auch am Brexit.
- Die wichtigste Veränderung liegt jedoch in Deutschlands Richtungswechsel, sagen Experten.
Am Dienstag haben sich die EU-Staaten nach einem regelrechten Marathon auf das grösste Finanzpaket ihrer Geschichte geeinigt. Dazu gehören 750 Milliarden Euro für das Konjunktur- und Investitionsprogramm gegen die Folgen der Pandemie.
Ein Streitpunkt in den Verhandlungen war der Anteil an Zuschüssen. Das sind Zahlungen, die im Gegensatz zu Krediten nicht zurückbezahlt werden müssen. Deutschland und Frankreich, die Motoren hinter dem Finanzpaket, wollten ursprünglich 500 Milliarden Euro in Form von Zuschüssen sprechen.
Nach den Verhandlungen liegt dieser Betrag bei 390 Milliarden. Runtergehandelt haben vor allem fünf Länder: Österreich, Schweden, Dänemark, die Niederlande und Finnland. Sie sind bekannt als «sparsame Länder» aus dem Norden und sind selber kaum angewiesen auf Hilfspakete.
Neue Machtkonstellation in Europa?
Doch in EU-Verhandlungen stehen diese fünf Länder üblicherweise nicht im Rampenlicht. Zeigt sich damit eine neue Machtkonstellation in Europa? Drei Europa-Professoren stellen auf Anfrage von Nau.ch tatsächlich Veränderungen fest.
Einer davon ist Rolf Weder, Professor für Aussenwirtschaft und Europäische Integration an der Uni Basel. Er sagt: «Neu ist meines Erachtens, dass sich eine Gruppe von kleinen Ländern durchsetzen und einen konkreten Vorschlag der grossen Länder substanziell verändern konnte.»
Bisher übernahm Grossbritannien oft die kritische Stimme, wenn es um Kompetenzabgabe und weitere politische Integration ging. Weder: «Mit dem Austritt von England müssen sich diese Länder jetzt selber für ihre Interessen einsetzen.»
«Wirklich neu ist Deutschlands Richtungswechsel»
Frank Schimmelfennig, Professor für Europäische Politik an der ETH, teilt den Eindruck der veränderten Machtkonstellation: «Ja, sie ist relativ neu, hat sich aber bereits seit der Brexit-Abstimmung 2016 entwickelt.» Gewissermassen treten die fünf Länder damit in die Lücke, die Grossbritannien mit dem Austritt aus der Union hinterlassen hat.
Grössere Bedeutung hat aber die Position Deutschlands. Schimmelfennig: «Wirklich neu ist der Richtungswechsel Deutschlands vom Anführer des 'sparsamen Nordens' hin zu einer zwischen Nord und Süd vermittelnden Position gemeinsam mit Frankreich.»
Schimmelfennig erklärt weiter: «Dadurch konnten sich die kleineren Länder des Nordens nicht mehr hinter Deutschland versammeln, sondern mussten ihre Interessen selbst in die Hand nehmen.»
Ihre Interessen fasst Gilbert Casasus, Europastudien-Professor der Uni Fribourg, so zusammen: «Die sparsamen Staaten sind die geistigen Nachfolger des Thatcherismus, der Europapolitik von Margret Thatcher.» Das bedeute, dass sie ihr Geld möglichst bei sich behalten wollen. Längerfristig würden sie damit kaum gewinnen, prognostiziert Casasus.
Deutschland müsse Binnenmarkt stärken
Auch Casasus sieht die entscheidende Veränderung in der deutschen Position. Deutschland habe «sozusagen einen Paradigmenwechsel» vollzogen.
Casasus zufolge liegt der deutsche Richtungswechsel einerseits daran, dass Deutschland im ersten Halbjahr 2020 das Ratspräsidium inne hat. «Es wäre für Merkel ein negativer Abgang, wenn sie das deutsche Ratspräsidium nicht erfolgreich gestalten könnte.»
Einen zweiten Grund sieht er in der Wirtschaft. Deutschland, Meister im Aussenhandel, könne sich nicht mehr länger auf den chinesischen und amerikanischen Exportmarkt fokussieren. Diese Absatzmärkte seien wegen der Coronakrise und der politischen Entwicklung in China und den USA nicht mehr sicher. «Für Deutschland ist es wichtig, den Binnenmarkt in Europa zu stärken», so Casasus.