Wladimir Putin zögert mit Ukraine-Reaktion – das steckt dahinter
Mit dem Angriff auf Kursk hat die Ukraine den Kreml überrumpelt. Ein Experte erklärt, weshalb die Reaktion von Präsident Wladimir Putin so lange ausbleibt.
Das Wichtigste in Kürze
- Nach der ukrainischen Offensive lässt die grosse russische Reaktion auf sich warten.
- Ein möglicher Grund sind die Armeestrukturen, die nicht auf Überraschungen ausgelegt sind.
- Allerdings könnte das Abwarten Putins durchaus auch gewollt sein.
Die Situation im Ukraine-Krieg hat sich zuletzt drastisch verändert. Kiew konnte Moskau mit einem Gegenschlag auf russischem Territorium überrumpeln.
Die Truppen von Präsident Wolodymyr Selenskyj verzeichneten in der Region Kursk bereits bedeutende Gebietsgewinne. Und die Offensive läuft Berichten zufolge noch weiter.
Auffällig ist: Die Reaktion von Selenskyjs russischem Pendant, Wladimir Putin, fällt bisher eher bescheiden aus. Direkt nach dem Angriff hiess es zwar, dass der Kremlchef die Situation unter seine persönliche Kontrolle genommen habe. Stoppen konnte man die Ukrainer bisher aber nicht.
Armeestrukturen erschweren eine schnelle Reaktion
Laut Nicolas Hayoz, Osteuropa-Experte an der Universität Freiburg, hat das Zuwarten des russischen Militärs mehrere Gründe.
Er führt aus: «Da wäre einmal die Tatsache, dass Putin Krisen meistens zuerst einmal verdrängt beziehungsweise kleinredet.» Als Beispiel nennt Hayoz Putins Reaktionen auf den Wagner-Aufstand um Jewgeni Prigoschin oder den Terrorangriff auf eine Konzerthalle in Moskau.
Ein weiterer Faktor sind die Strukturen innerhalb des russischen Militärs. Diese seien «extrem hierarchisch». Auf überraschende Events sei man entsprechend «wenig vorbereitet». Weiter sagt Hayoz: «Alles läuft ‹top down› und beruht auf Repression und Gehorsam.»
Putin selbst würde alles nach unten delegieren, was die fehlenden Leader-Fähigkeiten des Präsidenten aufdecke. Hayoz' Fazit: «Es fehlt offensichtlich auch an Führungsstrukturen, um die Reaktion auf den ukrainischen Vorstoss zu koordinieren.»
Dazu kommt, dass die Armeestrukturen zum Teil «auf Lügen und Falschinformation beruhen». Die Folge: «Oben weiss man meistens nicht oder nur schlecht, was unten beziehungsweise im Terrain geschieht.» Auch bezüglich Kursk sei Putin offensichtlich schlecht informiert gewesen.
Wladimir Putin ist «ein Meister im Aussitzen von Krisen»
Ob die ukrainische Aktion wirklich Folgen für Wladimir Putin hat, ist allerdings fraglich. Laut dem Experten kann man von einem «Desaster» oder von einer «Demütigung» sprechen. «Man könnte auch von Schwäche sprechen. Eine Schwäche, die auf die Defizite des Systems, der Armee und so weiter hinweist.»
Gewonnen ist deshalb im Ukraine-Krieg aus der Sicht Kiews aber noch nichts. Denn Wladimir Putin selbst werde durch die Aktion nicht zwingend geschwächt.
Einzig wenn der Präsident den Ukraine-Krieg verlieren würde, könnte seine Position angefochten werden. Hayoz dämpft aber Erwartungen: «Danach sieht es vorerst nicht aus, wenn man die russischen Vorstösse im Osten der Ukraine betrachtet.»
Dazu kommt, dass ein russischer Gegenangriff immer noch kommen könnte, betont Hayoz. «Putin ist ein Meister im Aussitzen von Krisen. Aber auch einer, der die Zeit immer wieder zu seinen Gunsten zu nutzen weiss.»
Der Kremlchef könne «abwarten, um seine Ziele zu erreichen». Das simple Aussitzen von Krisen und dieses taktische Abwarten gehen bei Putin zusammen.
Eines ist für den Experten klar: «Putin wird keine Kompromisse machen.» Er werde die Zeit zu seinen Gunsten nutzen können. Zumindest solange der Westen sich von seinen «roten Linien» einschüchtern lässt und der Ukraine nicht mehr Waffen liefert.
Aktuell präsentiert sich die Lage für die Ukraine bezüglich der Offensive auf russischem Gebiet weiterhin gut. Berichten zufolge versuchen die Ukrainer aktuell, die Stadt Korenewo zu erobern. Die Ortschaften Sudscha und Martynowka konnten sie bereits einnehmen.