Zerbricht die Solidarität mit Israel wegen vielen Opfern?
Zerbricht die anfängliche Welle der Solidarität mit Israel allmählich am Leiden der palästinensischen Zivilbevölkerung? Ein Experte ordnet ein.
Das Wichtigste in Kürze
- In ganz Europa nehmen immer mehr Menschen an pro-palästinensischen Kundgebungen teil.
- Zerbricht die anfängliche Solidarität mit Israel am Leiden der Zivilbevölkerung in Gaza?
- Solidarität mit Israel und Palästina schliesse sich nicht gegenseitig aus, so ein Experte.
Nach dem Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober wurde Israel zunächst grosse internationale Solidarität entgegengebracht: Im Gedenken an die Opfer hissten zahlreiche europäische Städte den Davidstern. Reihenweise Politiker bekundeten ihre ungebrochene Solidarität mit Israel und den Opfern des Terrors.
Seit die israelische Armee jedoch im Gazastreifen Hamas-Ziele bombardiert, scheint diese anfängliche Welle der Solidarität zunehmend zu brechen: Denn auch das Leiden der palästinensischen Zivilbevölkerung ist immens und lässt kaum jemanden unberührt.
Hunderttausende Demonstranten in ganz Europa, prominente Gesichter, Organisationen, aber auch Politiker verlangen vermehrt, dass Israel und Palästina die Waffen niederlegen: Der internationale Druck, den Konflikt auf diplomatischem Wege beizulegen, steigt.
Zynische Kriegsführung der Hamas
Dabei spielt ihre eigene Kriegsführung den Terroristen in die Hände – die Hamas missbraucht ihre eigene Zivilbevölkerung als menschliches Schutzschild: Sie bunkert Munition in der Nähe von Schulen und Krankenhäusern. Sie hindert Zivilisten an der Flucht aus umkämpften Gebieten und maximiert systematisch zivile Todesopfer.
Gefangene Elitesoldaten der Qassam-Brigaden (militärischer Flügel der Hamas) sagen beispielsweise aus, die Hamas tarne ihre Fahrzeuge zu Schutzzwecken als Ambulanzen. Ausserdem würden die Terroristen Munition, Waffen und Raketen in Schulen, medizinischen Einrichtungen und Gotteshäusern lagern: «Die israelische Luftwaffe bombardiert diese Gebäude nicht», erklärt einer der Gefangenen.
In zweierlei Hinsicht zielführend
Diese zynische Kriegsführung ist für die Hamas in zweierlei Hinsicht zielführend: Einerseits hindert die Taktik der menschlichen Schutzschilde Israel wenigstens teilweise an entschlossenem militärischem Handeln.
Andererseits erhöht sich mit jedem getöteten Unschuldigen der internationale Druck auf Israel, den Konflikt auf diplomatischem Wege beizulegen. Der Plan der Hamas scheint aufzugehen: Sie ist auf baldige Feuerpausen angewiesen, um ihre Wunden zu lecken und zum erneuten Schlag gegen Israel ausholen zu können.
Dies stellt die israelische Armee vor ein Dilemma – für Nahost-Experte Andreas Böhm von der Universität St. Gallen steht fest: «Die Hamas trägt ihr Vorgehen auf dem Rücken der Bevölkerung in Gaza aus. Gemäss ihrer Ideologie sind die Toten ohnehin Märtyrer.» Diese Taktik der menschlichen Schutzschilde stelle unbestreitbar ein Kriegsverbrechen dar.
Nimmt Israel Kriegsverbrechen in Kauf?
Trotzdem dispensiere die verbrecherische Kriegsführung vonseiten der Hamas Israel keinesfalls der Verpflichtung, das Kriegsrecht einzuhalten, erklärt Böhm. Der Experte gibt zu bedenken, dass auch Israel keineswegs eine vorbildliche Kriegsführung betreibe – im Gegenteil.
Israel versichere zwar, dass die Ziele unter grösstmöglicher Vermeidung ziviler Opfer verfolgt würden. Gleichzeitig gebe es jedoch genügend Anlass, um anzunehmen, dass dies längst nicht immer zutreffe, so der Nahost-Experte: «Aussagen von Ministern implizieren die Möglichkeit, dass Kriegsverbrechen bewusst in Kauf genommen werden oder gar eine ethnische Säuberung angestrebt wird.»
Dahingehend handle es sich im vorliegenden Fall mitnichten um ein Nullsummenspiel: «Zivilgesellschaftliche Solidarität mit den Opfern des Hamas-Terrors und den zivilen Opfern in Gaza schliessen sich nicht aus.» Gleiches gelte für die Opfer des «Siedler-Terrors im Westjordanland», so Böhm.
Kritik an brutalem Vorgehen als Form der Solidarität?
Auch deshalb habe sich Präsident Joe Biden im Namen der USA bereits explizit von derartigen Plänen distanziert. Politisch erhöhe sich damit der Druck auf Israel, das humanitäre Völkerrecht zu wahren. «In diesem Sinne kann die Kritik an der rechtsextremen Regierung Netanyahu auch eine Form der Solidarität mit Israel darstellen.»
Schliesslich betont Böhm jedoch, dass Absichten von Kriegsparteien massgeblich seien: «Es gibt einen enormen qualitativen Unterschied beispielsweise zur gezielten Bombardierung von Krankenhäusern durch russische Streitkräfte in Syrien oder der Ukraine. Das muss man bei aller Kritik am Vorgehen Israels festhalten.»