Netflix Serie Alias Grace: Mörderische Psychopathin oder Opfer
Kanada Mitte des 19. Jahrhunderts: Vielleicht hat die junge Grace zwei Menschen brutal ermordet. Aber vielleicht auch nicht. Wer glaubt schon dem Dienstmädchen?

Das Wichtigste in Kürze
- Die Miniserie «Alias Grace» von Netflix basiert auf einem Roman von Margaret Atwood.
- Sie erzählt die wahre Geschichte einer jungen Frau, die wegen Doppelmord verurteilt wurde.
Die Geschichte
Die Kartoffelfäule treibt die irische Familie Marks Mitte des 19. Jahrhunderts aus der Heimat und auf ein Schiff Richtung Kanada. Unterwegs stirbt die Mutter, in der neuen Welt wird die älteste Tochter Grace (Sarah Gadon) vom gewalttätigen, versoffenen Vater als Dienstmädchen verdingt.
Doch das ist nicht der Punkt, an dem die Netflix Miniserie «Alias Grace» einsetzt. Sie beginnt im Frauenknast. Hier sitzt Grace mit Häubchen und lebenslanger Strafe. Sie soll ihren Dienstherren und dessen Hausdame/Geliebte brutal ermordet haben.
Grace, die berühmte Mörderin. Für manche ist sie ein Monster, für andere Faszination - nur für eine kleine Gruppe scheint sie unschuldig. Ein Opfer der männergeprägten, lüsternen Gesellschaft. Ein junger Nervenarzt (Edward Holcroft) soll diese These bestätigen, indem er die Wahrheit aus Grace heraushört.

Doch je länger er ihrer Geschichte lauscht, desto tiefer verstrickt er sich in weiteren Fragen und eigenen Gefühlen. Erinnert Grace sich wirklich nicht mehr an den Mord? Wurde sie tatsächlich für ein Verbrechen verurteilt, bei dem sie mehr Opfer als Täterin war? Oder ist sie eine eiskalte, manipulative Psychopathin? Und falls das Eine zutrifft, schliesst es das Andere wirklich aus?
Das Fazit
Fast meint man die Stärke zu riechen, mit der die Baumwollkragen und Häubchen der Protagonisten von «Alias Grace» bearbeitet wurden. Es ist ein altbekannter Geruch. Gerade verströmen ihn nämlich zahlreiche Serien, darunter auch «The Handmaid’s Tale», «Outlander», «Victoria», «Anne with an E» oder die «Coal Valley Saga».
Geschichten aus einer Zeit, in der die gesellschaftlichen Strukturen und Benimmregeln ebenso starr waren, wie die gestärkten Baumwollkragen. In denen dennoch der Aufbruch in eine neue Zeit zu vernehmen ist. Sei dies im Rattern eines Wagens, der gen Westen zieht, im Muster eines Quilts, der frisch geschmiedete Amerikaner in der neuen Heimat warm hält oder in den gewisperten Parolen junger Frauen, die mehr möchten.
So ist denn auch «Alias Grace» mehr als ein spitzenbesetztes Historiendrama. Was Grace erlebt, ist nicht nur die Vernachlässigung der Arbeiterklasse, sondern auch die Unterdrückung der Frau.

Wut baut sich auf in Grace auf. Wut auf den gewalttätigen Vater. Wut auf den ersten Dienstherrn, der ihrer besten Freundin (Rebecca Liddiard) ein Kind macht und nicht mal mit der Wimper zuckt, als sie nach der Abtreibung stirbt. Wut auf den neuen Dienstherrn, der keinen Deut besser scheint. Wut auf den Stallburschen, der sie bedrängt. Wut auf den Zeugen, der gegen sie aussagt. Wut auf den Richter, der sie verurteilt. Wut schliesslich auch auf den jungen Nervendoktor, der nicht mal weiss, was ein Hausmädchen den ganzen Tag treibt.
Eine Wut, die in Produktionen dieses Genres bis anhin gern hinter gepudertem Lächeln und romantischer Verklärung versteckt blieb. Denn aktuellen Historiendramen aus dem 19. und frühesten 20. Jahrhundert ist gemeinsam, dass sie dieses Versteckspiel nicht mehr treiben. Dass sie durch die Augen einer Frau auf die Ereignisse blicken. Ehrlich, statt aufgehübscht.
Eine Szene zeigt das besonders schön: «Ich hätte meinen Kopf ganz wenden müssen, um ihn zu sehen, wegen meiner Haube», sagt Grace in einer Szene zu ihm. «Haben Sie jemals eine Haube getragen, Doktor?» Der Arzt verneint und lächelt süffisant. «Nein, das habe ich nicht», sagt er, «ich vermute, es ist einschränkend.»
Sehenswert weil
Historisch akkurat, filmisch fein und schauspielerisch eine grosse Leistung: Die Miniserie nach dem Roman von Margaret Atwood ist jede einzelne ihrer sechs Folgen wert.
★★★★☆