Schweizer haben immer öfter neurologische Probleme
Zitternde Hände, Gedächtnislücken, Kopfschmerzen. Neurologische Symptome sind vielfältig – und werden häufiger.
Das Wichtigste in Kürze
- Das Berner Inselspital vermeldet immer mehr Anmeldungen wegen neurologischer Beschwerden.
- Die Gründe sind vielseitig: die alternde Gesellschaft, aber auch Stress und Sorge.
15 Menschen in einer Warteschlange in der Neurologie des Inselspitals, nicht etwa im Warteraum, sondern bei der Anmeldung.
Dieses Bild bleibt Nau.ch-Leser Ulrich Hofer* im Gedächtnis. Sein Routinebesuch offenbart eine beunruhigende Entwicklung.
«Ich war nur wegen eines Checkups wegen gelegentlicher Kopfschmerzen da, aber die schiere Anzahl Leute machte mich stutzig.»
Hofer meint: «Das waren keine Notfälle, Termine werden teils im Voraus vergeben.»
Bei seinem letzten Besuch habe er eine solche Situation nicht erlebt. Das ist kein Zufall.
Mehr Fälle im Herbst und Winter
Andrew Chan, Chefarzt und Leiter des Universitären Ambulanten Neurozentrums der Insel, bestätigt gegenüber Nau.ch: «Wir beobachten tatsächlich einen Anstieg von Konsultationen wegen neurologischer Beschwerden.»
Saisonale Schwankungen seien dabei durchaus normal. «Herbst und Winter sind typischerweise stärker frequentiert», erklärt Chan.
Der Grund: Infektionskrankheiten können bestehende neurologische Symptome verschlimmern.
Gleichzeitig müssten die Kliniken in dieser Zeit krankheitsbedingte Personalausfälle kompensieren, was zu längeren Wartezeiten führe.
Doch die Problematik geht über saisonale Effekte hinaus. Der Mediziner erläutert: «Es handelt sich um einen kontinuierlichen Trend.»
Neurologie: Mehr Anmeldungen wegen Long Covid
Warum suchen immer mehr Menschen neurologische Hilfe? Chan nennt mehrere Faktoren.
Zum einen habe die alternde Gesellschaft dazu geführt, dass Krankheiten wie Parkinson oder Alzheimer häufiger auftreten. Zum anderen würden auch Fälle von Multipler Sklerose zunehmen.
Prekär: Erst 2022 kamen Forscher rund um Laurie A Manwell zum Schluss, dass eine erhöhte Bildschirmzeit das Risiko von Alzheimer erhöht.
Gleichzeitig warnte Pro Senectute kürzlich bei Nau.ch: Immer mehr Senioren sind Smartphone-süchtig! Und auch viele Kinder verbringen zu viel Zeit am Handy.
Schweizer achten sich immer mehr auf Symptome
Ein weiterer Aspekt sei das gestiegene Gesundheitsbewusstsein.
Der Chefarzt erklärt: «Die öffentliche Diskussion über Themen wie Demenz oder Long-Covid hat definitiv zu einem gesteigerten Bewusstsein geführt.»
Tatsächlich wurde jüngst ein neues Verfahren vorgestellt, das Alzheimer bis zu 15 Jahre pro Ausbruch erkennen soll. Ob dies zu einem Anstieg an Anmeldungen führte?
Besonders alarmierend scheint jedoch der Anstieg stressbedingter und funktioneller Störungen. Das sind Beschwerden, die nicht auf eine Schädigung der Hirnstruktur zurückzuführen sind.
Die Deutsche Hirnstiftung beschreibt auf ihrer Website etwa «psychogene und funktionelle Anfälle»: Symptome seien Ohnmachtsanfälle, Verkrampfungen, Zuckungen und weiteres.
Chan warnt: «Die Zunahme dieser Störungen gefährdet die allgemeine Gesundheit und erhöht das Risiko für andere neurologische Erkrankungen.»
Angst vor Corona-Impfschaden sorgt für Anstieg
Ein weiterer Grund für die hohe Nachfrage: Angst vor Impfschäden.
Chan erklärt: «Gelegentlich sehen wir Patientinnen und Patienten, die ihre Beschwerden auf die Corona-Impfung zurückführen, obwohl dies medizinisch nicht begründet ist.»
Vereinzelte Berichte hätten zu einem leichten Anstieg dieser Konsultationen geführt.
Erst im September wurde bekannt, dass in der Schweiz erstmals eine Person für einen Corona-Impfschaden entschädigt wird.
Der Neurologe beruhigt aber: «Beschwerden, die möglicherweise auf eine Corona-Impfung zurückzuführen sind, treten sehr selten auf.»