Mamis trinken Wein gegen Stress – Experten schlagen Alarm
Ein Glas Rosé zum Runterfahren um 16 Uhr? Was auf den sozialen Medien als Entspannung für Mütter propagiert wird, kann auch in die falsche Richtung gehen.
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Das Wichtigste in Kürze
- Mit Wein im Thermos ins Böllelibad? Lustige «Ich hab keinen Bock»-Videos landen im Netz.
- Diese Mami-Alltag-Videos haben aber oft eine ernste Ursache.
- Und können auch verheerende Folgen haben, wie Experten warnen.
«Mami braucht erstmal ein Glas Wein.»
Unter dem Hastag #mummywineculture oder #mamabrauchtwein gibt es auf Instagram unzählige Beiträge.
Dazu Reels von Müttern, die in der Thermoskanne Wein oder Prosecco ins Spielparadies oder an den Elternabend schmuggeln. Um mal kurz etwas runterfahren zu können.
Das mutet unterhaltsam an und ist oft auch so zu verstehen. Ganz nach dem Motto: Auch wir Mütter brauchen mal eine Pause.
Doch es gibt auch die Kehrseite. «‹Mummy-Wine-Culture› ist keine lustige Social Media Welle – sie ist ein Hilferuf.» Das schreibt die deutsche Gleichberechtigungs-Expertin Juliane Schreiber auf LinkedIn.
Und fordert: Staat und Unternehmen müssten mehr in Vereinbarkeit investieren, damit Mütter weniger am Limit sind. Das wäre somit auch eine Investition in die Gesundheit einer ganzen Generation, betont sie.
«Übergrosse Ansprüche an sich»
Denn: Viele Menschen – auch Mütter – würden Entspannung im Konsum von Alkohol suchen.
Auch Suchtberaterin Antje Mohn vom Blauen Kreuz erklärt: «Dies ist langfristig kein sinnvoller Weg, denn die Gefahr ist gross, in eine Abhängigkeit zu geraten.»
Es gebe einige Mütter, die beim Blauen Kreuz Hilfe bezüglich ihres Alkoholkonsums suchen würden. Die Scham sei bei Frauen aber immer noch gross. «Besonders bei Müttern.»
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Sich einzugestehen, dass sie zu viel trinken, sei für sie häufig mit grossen Schuldgefühlen und schlechtem Gewissen verbunden.
Jene Frauen, die es schaffen und sich melden, seien dann meist froh, «offen über Überforderung, Stress und übergrosse Ansprüche an sich selbst sprechen zu können».
Aperol Spritz-Werbung soll Freiheit vermitteln
Doch auch die Wirtschaft trägt das Ihre dazu bei.
Marianne Egli kennt als Deutschschweizer Medienbeauftragte der Anonymen Alkoholiker die Mechanismen der Alkohol-Industrie und sagt: «Die Zielgruppe junge Frau wird von allen Akteuren – vom Produzenten bis zum Handel – als Wachstumstreiber im sinkenden Markt der ‹Alkohol-Industrie› angesehen.»
Die Werbung von Freixenet über Campari zu Aperol Spritz zeichne das Bild von Freiheit, Unabhängigkeit und Lebensfreude. «Die Belastung der Frauen im Umfeld von Beruf, Familie, Kinder wird durch diese Positiv-Kampagnen stark beeinflusst.»
Das Motto sei: Trink, dann geht es dir besser.
«Schafft neue Probleme»
Auch Psychotherapeutin Veronica Defièbre sieht in ihrer Praxis in Zürich immer wieder Frauen, die durch die Doppelbelastung Beruf und Familie «an ihre Grenzen kommen und psychische Symptome deswegen entwickeln».
Die häufigsten darunter seien Schlafstörungen, Erschöpfung und Ängste, die teils auch von Zwängen begleitet werden.
Jedoch kein übertriebener Alkoholkonsum. «Bei keiner meiner Patientinnen ist dies bislang Thema gewesen im Zusammenhang mit Muttersein», so Defièbre.
Sie seien im Gegenteil sehr auf ihre Gesundheit bedacht und verantwortungsbewusst in ihrer Mutterrolle.
«Viele trinken nur sehr wenig oder gar keinen Alkohol. Aber die Entspannung kommt häufig zumindest in den Anfängen der Mutterschaft zu kurz. Mit der Zeit finden die meisten aber Möglichkeiten, wie zum Beispiel in Form von Sport oder Meditation.»
Sie kenne diese Art der Gefühlsregulation vor allem von Patientinnen und Patienten mit posttraumatischer Belastungsstörung. «Sie ist sehr gefährlich, weil sie keine Probleme löst, sondern neue schafft.»
Besser ein Spaziergang als Alkohol
Das eigentliche Problem werde durch den Alkoholkonsum überdeckt und es könne sich daraus eine Sucht entwickeln, die dann an sich ein Problem wird, das auch noch angegangen werden muss.
Defièbre rät, in anderer Form Entspannung zu suchen. Etwa mit Yoga, Meditation oder Spaziergängen in der Natur.
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«Aber mindestens genauso wichtig ist es, herauszufinden, welche Faktoren diese Stress-Spirale verursachen und welche davon verändert werden können, damit der Stress reduziert werden kann.»
Ein wichtiger weiterer Faktor seien häufig die eigenen Ansprüche der Mütter an sich und an ihr Umfeld, aber auch vom Umfeld an die Mütter.