Gaspar Noé im Gespräch über Einflüsse und improvisierte Drehs

Robin Mahler
Robin Mahler

Neuchâtel,

Der französische Film «Climax» ist am diesjährigen NIFFF als bester Film ausgezeichnet worden. Regisseur Gaspar Noé hat mit Nau über seine Arbeit gesprochen.

Regisseur Gaspar Noé hat seinen neuen Film in Neuenburg vorgestellt.
Regisseur Gaspar Noé hat seinen neuen Film in Neuenburg vorgestellt. - NIFFF

Das Wichtigste in Kürze

  • «Climax» von Gaspar Noé hat auf dem NIFFF 2018 die Auszeichnung als bester Film erhalten.
  • Nau hat den Regisseur in Neuenburg zum Gespräch getroffen.
  • Der Kinostart für die Deutschschweiz ist für den 6. Dezember 2018 angesetzt.

In «Climax» gerät eine Tanzgruppe am letzten Abend während ihrer Probe in einen unfreiwilligen LSD-Rausch. Die Jury des Neuchâtel International Fantastic Film Festival (NIFFF) verlieh dem Werk die Auszeichnung für den besten Film. Regisseur Gaspar Noé wurde am 27. Dezember 1963 in Buenos Aires geboren, die Familie wanderte während seines 12. Lebensjahrs nach Frankreich aus. Nach dem Studium folgte die Aushilfe als Regieassistent für den argentinischen Regisseur Fernando E. Solanas. Nach dem Dreh mehrerer Kurzfilme entstand im Jahre 1998 schliesslich sein Spielfilm-Debüt «Menschenfeind». Vier Jahre später folgte mit «Irreversibel» der Durchbruch. Mit «Climax» liefert er seinen fünften Streifen ab. Im Rahmen des Festivals in Neuenburg war Noé als Gast anwesend. Nau hat dem Regisseur während dessen Zigarettenpause einige Fragen zum Film gestellt.

Einige Leute betiteln «Climax» als Horror-Musical. Wie würden Sie den Film bezeichnen?

Der Titel «Horror-Musical» klingt gut. Für mich ist es aber mehr als ein Musical, denn ich mag das Genre nicht. Mir gefällt vor allem das Tanzen. Beim Besuch eines Restaurants in Indien schau ich mir lieber das Geschehen an, als zu reden. Dort haben die Menschen einen seltsamen, hypnotischen Tanzstil, der so anders als derjenige im Westen ist. Es fasziniert mich, Leuten beim Tanzen zuzusehen, weil das so psychotisch ist. Dabei agieren sie wie in Trance und scheinen sich viel besser ausdrücken zu können als die meisten normalen Personen. Sollte «Climax» unbedingt einer Kategorisierung benötigen, dann gehört er für mich eher zum Katastrophenfilm, wie beispielsweise «Die Höllenfahrt der Poseidon», «Flammendes Inferno» oder «Parasiten-Mörder» von David Cronenberg. Die Charaktere bewegen sich auf engem Raum, anfangs herrscht beste Stimmung und dann passiert ein Missgeschick und sie brennen oder ertrinken. Da stellt sich die Frage, wer stirbt oder überlebt. «Climax» ist wie ein Katastrophenfilm mit Tänzern, die in einer kleinen Schule proben. Die Tatsache, dass jemand LSD in die Sangria mischt, ist fast eine Art Entschuldigung um ihre Verwandlung in den Wahnsinn mit anzusehen. In Kriegszeiten ist es ähnlich. Die Menschen waren untereinander anfangs freundlich, als in Jugoslawien der Krieg begann, herrschte die Paranoia und man tötete sich gegenseitig ohne zu zögern.

Anfangs werden die Figuren in einem Video auf einem Röhrenfernseher vorgestellt. Neben dem Gerät befinden sich Bücher und VHS-Hüllen von diversen Filmen wie «Suspiria».

Genau, bei den Videokassetten habe ich meistens die französische Version verwendet. So ist beispielsweise «Le Droit du plus fort» im Original das «Faustrecht der Freiheit» von Rainer Werner Fassbinder oder «Labyrinth Man» der Titel für «Eraserhead» von David Lynch. Die Anwendung hat mir Spass gemacht.

«Suspiria» ist deswegen vertreten, weil die Ereignisse im Film in einer Tanzschule angesiedelt sind und sich dort Morde ereignen. Zudem ist alles sehr farbenfroh gestaltet. Eine weitere Inspiration für «Climax» war «Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo». Die Farben in diesem Film sind so hell und bunt, aber die Geschichte gehört zu den traurigsten überhaupt. Als ich mit Art-Direktor Jean Rabasse gearbeitet habe, sagte ich zu ihm: «Bitte schau dir Christiane F. an. Ich möchte meinen Film ähnlich gestaltet haben, da Dreck im Zentrum jedes Bildes vorkommt. Es ist mir egal, ob sie Rot, Grün oder Pink ist, aber ich möchte die Welt so dreckig wie möglich aber mit hellen Farben.» So wird der Schmutz zu einer zusätzlichen Farbe, organisch verbunden mit der Feuchtigkeit.

Gibt es noch zusätzliche Einflüsse für «Climax»?

«Cannibal Holocaust« sowie «Dawn of the Dead» von George A. Romero. Letzterer spielt grösstenteils an einem Ort – dem Einkaufszentrum. Zu Beginn sind viele Menschen und wenige Zombies vorhanden. Am Ende verwandeln sie sich in die Untoten. Im Grunde ist die Geschichte meines Films in klassischer Form erzählt.

Kommen wir zu den Schauspielern.

Ich möchte dazu einwerfen, dass alle davon Tänzer sind. Ich habe sie in Paris ausgewählt. Zwei Rollen waren schwierig zu bewältigen ohne entsprechende Schauspielfähigkeiten. Hauptdarstellerin Sofia Boutella hat ihre Karriere als Tänzerin gestartet. Souhelia Yacoub hat ebenfalls zuvor über Schauspiel-Erfahrung verfügt. Alle anderen waren keine Schauspieler, sondern professionelle Tänzer, ausgewählt nach Sympathie und Fähigkeiten. Sie fragten mich: «Werden wir spezifische Regieanweisungen erhalten?» Darauf antwortete ich: «Nein, spielt einfach natürlich und handelt danach, wie es euch gerade einfällt». Beim ersten gemeinsamen Treffen waren alle aufgeregt. Während den 15 Drehtagen wuchsen sie zu einer Art Familie und hatten eine Menge Spass dabei, so zu tun als ob sie auf Drogen wären, obwohl alle nüchtern waren.

Es gibt eine lange Szene mit Gesprächen zwischen den einzelnen Gruppenmitgliedern. Sind die Dialoge dabei improvisiert?

Ja, jedes Mal während der Essenszeit habe ich mit zwei Leuten eine Diskussion geführt und sie währenddessen gefilmt. Ich sagte Ihnen: «Redet einfach über die anderen Leute oder sonstigen Blödsinn». Die Gruppierungen waren ebenfalls zufällig angeordnet, manchmal sagte ich: «Redet bitte nochmals, ich mochte die Szene, die ihr gerade hingelegt hast». Ein Beispiel: Die beiden Jungs, die über Sodomie reden, sie waren so witzig, dass es schwierig war, ihre Szenen zu schneiden. Als ich sie filmte, lachte ich die ganze Zeit hinter der Kamera. Ich sagte zu ihnen: «Könnt ihr noch schäbiger werden?» und sie sagten «Klar». Man merkt, dass es Witze sind, welche sie auch im realen Leben erzählen würden.
Schlussendlich hatte ich für jede einzelne Einstellung 20 Minuten Material, jeweils in unter einer Minute zusammengeschnitten.

Die Namen ihrer Rollen für die Interviews am Anfang des Films wurden jeweils von den Beteiligten ausgesucht. Sie mussten lediglich daran denken, nicht über Beyoncé oder andere Berühmtheiten, welche nach dem Jahre 1996 bekannt wurden, zu reden. Es gab damals keine Mobiltelefone, also war Instagram kein Thema. Trotz ihrer ersten Filmrolle waren alle glücklich, mitzumachen. Die Arbeit mit den Schauspielern verlief reibungslos. Es ist das zudem das erste Mal in meiner Karriere, dass ich einen Film ohne irgendwelche Kämpfe in der Vorproduktion, dem Dreh sowie der Nachbearbeitung gemacht habe.

Die Musik hat einen hohen Stellenwert im Film. Wie gingen Sie die Auswahl der Lieder an?

Der Film dauert 95 Minuten, die Musik ist abgesehen von 30 Sekunden ebenfalls so lange zu hören. Die Stücke mussten im Vorfeld ausgewählt werden, damit die Leute dazu tanzen konnten. Die Zusammenstellung beinhaltet persönliche Favoriten sowie Stücke, die ich vorher nicht kannte. Mein Music Supervisor hat mir Sachen aus den 90ern vorgeschlagen. Die Rechte mussten vor dem Drehbeginn ausgehandelt werden. Du kannst die Beteiligten nicht zu einem Stück proben lassen, wenn es am Ende nicht im Film erscheint. Dadurch sieht man als Zuschauer, dass es nicht synchron ist. Auf dem Soundtrack befinden sich Disco-Stücke von Künstlern wie Giorgio Moroder, Cerrone oder Patrick Hernandez. Ich wollte den fehlgeschlagenen Drogenrausch in der zweiten Hälfte platzieren, so musste aus fast zweieinhalb Stunden Musik ausgewählt werden, von der fröhlichen bis zur düsteren Art gegen Ende hin.

Bezüglich der Tanzszene am Anfang: Gab es in der Nachbearbeitung digitale Effekte oder kommt sie ohne Tricks daher?

Digitale Effekte sind vorhanden. Ich habe die Kamera – wie bei anderen Filmen – bei dieser Szene selbst bedient. Benoît Debie, meiner Meinung nach der beste Kameramann des Planeten, und ich haben eine Menge getrickst. Wir drehten nicht im Cinemascope (Breitbildformat), dafür aber mit einer breiten Linse und in einer 8K-Auflösung geschossen innerhalb eines quadratischen Rahmens. In der Nachbearbeitung haben wir darin reingezoomt und neu arrangiert. Die Idee zur Szene kam mir kurz vor den Dreharbeiten. Mir ist nicht bekannt, dass dies jemand zuvor gemacht hat. Ich wollte alles im Bild haben, weil wenn sich jemand während er gefilmt wird nach rechts dreht, ist er aus dem Bild, das ergibt ein so genanntes Fischauge. Das Mädchen mit den brennenden Haaren, hat ihre Szene sieben Mal mit echtem Haar gedreht. Da besorgten wir Perücken, weil Haare so schnell in Brand geraten. Einmal sah ich auf einer Party ein Mädchen, Sie steckte sich ihre Haare mit einer Kerze in Brand und war innert kürzester Zeit kahl. Das hat mich im echten Leben beeindruckt, also mussten Echthaarperücken her. Die fertige Szene ist kein nachträglich eingefügter Effekt, sondern geschah real auf dem Set.

Gibt es ein Projekt, welches Sie irgendwann angehen möchten?

Vielleicht drehe ich einmal einen Film über schlimme Menschen, die vortäuschen, im Namen Gottes zu handeln. Die guten Menschen wären dann sehr aufgeregt.

Nau hat «Climax» im Rahmen des Festivals rezensiert. In der Deutschschweiz ist der Kinostart für den 6. Dezember 2018 angesetzt.

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