Die fetten Jahre sind vorbei: Das Wirtschaftswunder Türkei wird vom Boom auf Pump eingeholt. Nun ruft Erdogan die Bevölkerung zur Einheit auf.
Ein Jugendlicher läuft an einer Anzeigetafel mit den Wechselkursen ausländischer Währungen vorbei. Nach einem weiteren dramatischen Absacken der Lira an den Börsen haben der Finanzminister und die Zentralbank am 13.08.2018 Notfallmassnahmen ergriffen.
Ein Jugendlicher läuft an einer Anzeigetafel mit den Wechselkursen ausländischer Währungen vorbei. Nach einem weiteren dramatischen Absacken der Lira an den Börsen haben der Finanzminister und die Zentralbank am 13.08.2018 Notfallmassnahmen ergriffen. - dpa

Das Wichtigste in Kürze

  • Über Jahre galt die Türkei als Wirtschaftswunder.
  • Nun befindet sich die Lira im freien Fall, verstärkt durch einen Zwist mit den USA.
  • Erdogan ruft seine Bevölkerung zum Umtausch der Dollars in Liras auf.
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Es war ein Riesen-Schock für die türkische Lira, als US-Präsident Donald Trump letzten Freitag Strafzölle auf türkischen Stahl und Aluminium ankündete. An einem Tag fiel der Wert der türkischen Währung um 21 Prozentpunkte.

Hintergrund der Strafzölle ist der Disput um den US-amerikanischen Pastor Andrew Brunson. Die USA verlangen, dass die Türkei den unter Hausarrest stehenden Brunson freilässt. Vor rund 22 Monaten hatte die Türkei den US-Geistlichen verhaftet. Ihm werden Verbindungen zur verbotenen Kurdenpartei PKK und zur Bewegung um den islamischen Prediger Fethullah Gülen vorgeworfen. In den Augen der türkischen Führung ist der in den USA lebende Prediger Gülen für den Putschversuch vom Juli 2016 verantwortlich. Die türkische Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, mit Hilfe der CIA die Putschisten unterstützt zu haben. Im drohen 35 Jahre Gefängnis.

Nun will der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan Brunsons als Faustpfand gegen Gülen austauschen. «Gebt uns den (Gülen) zurück, dann geben wir euch ihn (Brunson) zurück», sagte Erdogan kürzlich in einer Rede. Doch Trump ist bisher nicht auf diesen Deal eingegangen, setzt dafür aber auf wirtschaftlichen Druck. Seit heute Montag sind nun die Strafzölle in Kraft. Wirtschaftlich gesehen sitzt Trump damit eindeutig am längeren Hebel. Hat da Erdogan etwa zu fest gepokert?

Dem US-Pastor Andrew Brunson drohen in der Türkei 35 Jahre Haft.
Dem US-Pastor Andrew Brunson drohen in der Türkei 35 Jahre Haft. - Dpa

Vom Staatsbankrott zum Wirtschaftswunder

Einst war es Erdogan, der das Land vom Staatsbankrott bewahrte. Als seine AKP 2002 an die Macht kam, war das Land fast pleite. Die Inflation betrug über 40 Prozent. Nur Kredite des Internationalen Währungsfonds bewahrten das Land vor dem Staatsbankrott. Die neue Regierung unter Ministerpräsident Erdogan setzte die IWF-Auflagen akribisch um, viele Staatsunternehmen wurden privatisiert, die öffentliche Verschuldung gesenkt und die Inflation fiel schliesslich unter einen einstelligen Bereich.

Im ganzen Land wurden Arbeitsplätze geschaffen, eine erfolgreiche Mittelschicht konnte sich entwickeln. Erdogans Politik stand für politische Stabilität, die das Land bisher kaum kannte. Erdogan heimste sich so – auch trotz einem immer autoritäreren Regierungsstil – viel Respekt und Loyalität bei der Bevölkerung ein.

Wirtschaftswunder auf Pump

Doch der wirtschaftliche Aufschwung war nicht nur der türkischen Politik zu verdanken, sondern auch – oder besonders – dem günstigen Umfeld der Weltwirtschaft. Angetrieben durch Investitionen aus dem Ausland trieb der Staat grosse Bau- und Infrastrukturprojekte, wie etwa Metro- oder Flughafenprojekte, voran – der Bausektor wurde zum Wachstumsmotor des Landes.

Der damalige Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan mit weiteren Staatschefs bei der Einweihung des Bosporus-Metro-Projekts im Jahr 2013.
Der damalige Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan mit weiteren Staatschefs bei der Einweihung des Bosporus-Metro-Projekts im Jahr 2013. - Keystone

Früh wiesen Ökonomen auf die Gefahren der Erdoganschen Wirtschaftspolitik hin, denn das Wirtschaftswunder funktionierte nur auf Pump. Vor allem Privatwirtschaft und private Haushalte haben sich in der Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs im Ausland verschuldet. Die Wettbewerbsfähigkeit blieb stets auf der Strecke, das Land hing stets von Importen ab.

Gezi-Proteste, Terroranschläge und Putschversuch

Viele Faktoren haben dazu geführt, dass sich das Blatt in der Türkei gewendet hat. Im Nachgang zur Euro-Krise sank die Investitionsfreude ausländischer Unternehmen. Aber auch Erdogans harte Gangart gegen Proteste im Istanbuler Gezi-Park und gegen kritische Journalisten dämpfte den Investitionswillen aus dem Ausland. Mit dem Ende des Friedensprozesses mit der kurdischen Minderheit und Terroranschlägen durch den IS verschlechterte sich auch die Sicherheitslage im Land. Der Tourismus – einer der wichtigsten Wirtschaftszweige im Land – geriet ins Wanken.

Dann scheiterte im Juli 2016 der Putsch des Militärs gegen Erdogan. Viele Staatsbedienstete wurden im Nachgang entlassen, hunderttausende eingesperrt – auch viele Mitarbeiter aus der Privatwirtschaft. Die Folge: Immer weniger Unternehmen aus dem Ausland sind heute bereit, in die Türkei zu investieren.

Putsch Türkei
Am 15. Juli 2016 versuchten Mitglieder des türkischen Militärs zu putschen. - Keystone

Vorzeitige Wahlen

Es war ein geschickter Schachzug von Erdogan, die Präsidentschaftswahlen in diesen Frühling vorzuverlegen. Laut Verfassungsreform hätten die Wahlen erst Ende 2019 stattfinden sollen. Gut möglich hätte er dann seine Wiederwahl verpasst. Nun konnte er mit seiner vorzeitigen Wiederwahl seine Machtfülle weiter ausweiten. So sicherte er sich mit einem Dekret mehr Einfluss auf die türkische Zentralbank – und verunsicherte damit die ausländischen Investoren zusätzlich.

Recep Tayyip Erdogan geht bei den vorzeitigen Präsidentschaftswahlen als Sieger hervor. Hier auf einem Balkon nach seiner Wiederwahl.
Recep Tayyip Erdogan geht bei den vorzeitigen Präsidentschaftswahlen als Sieger hervor. Hier auf einem Balkon nach seiner Wiederwahl. - Keystone

Der türkische Boom auf Pump holt nun die Türkei – und allen voran Erdogan – ein. Zu lange lebte das Land über seinen Verhältnissen. Nun wird sich zeigen, ob Erdogan in diesem Fahrwasser die Oberhand behalten kann. Er versucht es, indem er die Wirtschaftskrise als Wirtschaftskrieg aus dem Ausland abtut und die Bevölkerung zur Einheit aufruft. Die Bürger sollen nun ihre Dollars und Euros in Liras umtauschen, damit die Währung nicht noch mehr zerfällt. Doch viele Türken horten zurzeit ihr Geld lieber in Dollars.

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