Darum nimmt die Aggressivität in der Öffentlichkeit zu
Gewalt und Aggressivität in der Öffentlichkeit nehmen zu. Der Trend dürfte kurzfristig sein – doch der Ton ist rauer geworden. Ein Experte erklärt, warum.
Das Wichtigste in Kürze
- Laut der Kriminalstatistik nimmt Gewalt im öffentlichen Raum zu.
- Der Trend dürfte kurzfristig sein – die Jugendkriminalität ist sogar rückläufig.
- Aber: Hassrede, Cybermobbing und Raubtaten nehmen zu.
Mehr Leute nerven sich über Kinder, das VBZ-Fahrpersonal klagt über aggressiveren Verkehr und Pflegerinnen und Polizisten werden attackiert: Gewalt im öffentlichen Raum nimmt zu, zeigt die Kriminalstatistik.
Von Social Media bis hin zu herrschenden Krisen – dazu, was dahinter steckt, gibt es verschiedene Theorien. Dass sich mehr Leute von Kindern gestört fühlen, führt Soziologe Martin Hafen unter anderem auf Klimawandel und Ukraine-Krieg zurück: «Diese Bedrohungen lösen Stress aus. Das reduziert die Gelassenheit und die Bereitschaft der Menschen, ‹Störungen› im Alltag hinzunehmen.»
«Ich würde aber noch weiter gehen», sagt Hafen. Ihm zufolge seien die Menschen weniger bereit, sich auf andere einzulassen – wegen der zunehmenden Individualisierung. Corona habe diese die sinkende Toleranz nochmals beschleunigt.
Hassrede, Cybermobbing und Raubtaten nehmen zu
Kriminologe Dirk Baier gibt zu bedenken, dass die Kriminalstatistik nur einen kurzfristigen Trend aufzeige. Aber: «Ich möchte nicht grundsätzlich in Abrede stellen, dass es rauer und aggressiver in der Gesellschaft zugeht.»
Insbesondere sprachlich gebe es negative Trends, feststellbar «bei Hassrede oder Cybermobbing». Auch Raubtaten seien gestiegen. Die Pandemie-Erklärung von Hafen überzeugt Baier aber nur zum Teil. «Diese Erklärung nimmt an, dass alles durch die Pandemie schlimmer geworden sei – das stimmt nicht.»
Seine Gegenargumente: «Am Beispiel der Jugendkriminalität und -gewalt sieht man, dass es bereits seit 2016 negative Trends gibt – lange vor Corona.» Aktuell komme es im Vergleich mit den beiden Vorjahren bei Jugendlichen gar erstmalig wieder zu einem Rückgang.
Viele nehmen wohl subjektiv wahr, dass sich Gesellschaft zum Negativen wandelt
Zudem habe die Pandemie alle Menschen betroffen, «Problemverhalten zeigt aber nur ein sehr kleiner Teil». Es müsse also weitere, individuelle Faktoren geben.
Deshalb sei die Frage wichtig, bei welchen Menschen die Pandemie für eine kürzere Zündschnur gesorgt habe. Gesicherte wissenschaftliche Antworten gebe es nicht. Ein möglicher Grund sei aber Frust wegen Arbeitslosigkeit und Armut. «Andererseits wissen wir aus der Forschung, dass das keine starken Einflussfaktoren der Kriminalität sind.»
Deshalb eine weitere mögliche Erklärung: «Es kann sich um Menschen handeln, die subjektiv wahrnehmen, dass sich die Gesellschaft zum Negativen verändert. Sie könnten deshalb meinen, dass Aggressivität und Gewalt legitim sind, dass man vor allem auf sich selbst schauen muss.»
Das seien beispielsweise Menschen, «die weniger gut sozial eingebunden sind, die Empathie und Konfliktlösekompetenzen weniger gelernt haben». Baier erklärt: «Relevant dafür dürfte sein, dass in den Medien – besonders den Sozialen Medien – überwiegend über problematische Entwicklungen berichtet wird. Und das geschieht häufig in einer emotionalisierenden Form.»