Gesetz sollte Behinderte schützen – hilft ihnen aber selten
Seit 2004 schützt ein Gesetz Behinderte vor Diskriminierung. Wer im Rollstuhl sitzt oder blind ist, sollte überall Zugang haben. Dem ist aber längst nicht so.
Das Wichtigste in Kürze
- Seit 2004 schützt das Behindertgengleichstellungsgesetz (BehiG) vor Diskriminierung.
- Wird das Gesetz nicht eingehalten, können Betroffene klagen und Schadenersatz fordern.
- Recht bekommen sie laut Spezialist aber nur selten. Zu viele Hebel wirken dagegen.
Wenn der Basler Simon Hitzinger mit dem Zug nach Zürich reist, beginnen die Probleme gleich nach dem Bahnhof. «Wenn ich an der Tramstation Zürich HB umsteigen will, geht das nicht. Die offizielle Tramstation des HB ist nicht rollstuhlgängig», so Hitzinger. Er schüttelt den Kopf, «das ist doch ein Witz».
Auch die Welt von Martin Münch ist voller Hindernisse. Münch ist Berater für sehbehinderten- und blindengerechtes Bauen. Er weiss aus eigener Erfahrung: Seinen Rat hätten viele Bauherren dringend nötig. Eingefordert wird er allerdings selten.
«Fahrgastinformationen an Haltestellen zum Beispiel sind selten akustisch. Die laufen einfach über eine Tafel. Aber was, wenn ein Zug ausfällt und ein Blinder allein an der Haltestelle steht? Dann hat er keine Chance, von der Störungsmeldung zu erfahren. Er wartet dann einfach ewig dort.»
Gesetz seit 15 Jahren in Kraft
2004 allerdings trat das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) in Kraft. Es soll verhindern, dass Menschen auf Grund einer Behinderung benachteiligt werden. Erfahrungen wie jene von Simon Hitzinger und Martin Münch müssten der Vergangenheit angehören. Das tun sie aber nicht.
Denn das Gesetz sieht eine Art Umbauzeit von 20 Jahren vor. Erst 2024 müssen die Vorschriften des BehiG umgesetzt sein. Welche rechtlichen Instrumente haben Menschen mit Behinderung also überhaupt in der Hand? Das weiss Marc Moser von Inclusion Handicap.
Hindernis entfernen oder Entschädigung zahlen
«Im Bereich ÖV oder auch bei Gebäuden, die neu erstellt oder renoviert werden, kann jede Person mit Behinderung die Beseitigung eines Hindernisses verlangen», erklärt Moser. Die Basis dazu bieten das verfassungsmässige Diskriminierungsverbot und das BehiG. «Das gilt sowohl gegenüber dem Staat, als auch bei Privaten», fügt Moser an.
Gesetz schwer durchsetzbar
Im Bereich der Dienstleistungen sieht es hingegen anders aus. «Werden sie vom Staat anerboten, gilt das Gleiche wie beim ÖV, bei Bauten sowie Anlagen: Die Beseitigung des Hindernisses kann verlangt werden», so Moser.
Wird die Dienstleistung allerdings von Privaten angeboten, schrumpfen die Möglichkeiten, sich dagegen zu wehren. «Dann kennt das BehiG lediglich einen Schutz vor Diskriminierungen. Benachteiligungen hingegen können nicht eingeklagt werden.» Diskriminierung liege «gemäss dem engen Verständnis des Bundesgerichts» allerdings nur vor, wenn hinter der Benachteiligung eine nachweisbar böse Absicht steckt.
Das allerdings sei schwer nachzuweisen, so Moser. «Erschwerend kommt hinzu, dass die Rechtsprechung des Bundesgerichts im Bereich Dienstleistungen von Privaten sehr zurückhaltend ist.» Moser erzählt dazu ein Beispiel aus der Romandie.
Zurückhaltendes Bundesgericht
«In Genf konnte ein Rollstuhlfahrer nicht ins Kino, weil es keine Rampe gab. Er hat wegen Diskriminierung geklagt. Das Kino argumentierte aber, wegen der Treppen könnte man im Brandfall nicht für die Sicherheit des Rollstuhlfahrers garantieren. Der verwehrte Zugang sei also keine böse Absicht.»
Das Bundesgericht gab dem Kino recht. Der Rollstuhlfahrer ging leer aus. «Die Folge, dass der Rollstuhlfahrer sehr wohl diskriminiert wurde – er konnte den Film nicht schauen gehen – wurde nicht berücksichtigt», so Moser.
Genügen Schutz und Gesetz?
Doch selbst wenn in einem solchen Fall Diskriminierung festgestellt werden kann, besteht kein Anspruch auf Beseitigung des Hindernisses. «Betroffene können nur auf eine Entschädigung von maximal 5000 Franken klagen», so Moser.
Der in der Schweiz so geringe Diskriminierungsschutz ist für Moser klar «völkerrechtswidrig. Also nicht mit der UNO-Behindertenrechtskonvention vereinbar.»
Zurück zum Beispiel der Zürcher Tramhaltestelle, von der Rollstuhlfahrer Simon Hitzinger erzählt hat. «Es ist für mich nicht vorstellbar, dass der Umbau einer derart hoch frequentierten Haltestelle wie derjenigen beim HB Zürich, unverhältnismässig sein kann», sagt Moser.
Dort bestehe ein Anspruch auf Beseitigung der Benachteiligung, so Moser. «Simon Hitzinger könnte schon jetzt klagen», so Moser weiter.
Ganz hindernisfrei muss der ÖV allerdings erst ab 2024 sein. Bis dahin braucht Simon Hitzinger Geduld – und fremde Helfer, die bereit sind, spontan mit anzupacken, damit er den ÖV nutzen kann.