Senioren werden im Alter «paranoid» – doch oft haben sie recht

Rowena Goebel
Rowena Goebel

Zürich,

Im Alter wittern viele überall Betrug. Die Grenze zwischen ungesunder Angst und berechtigter Sorge ist verschwommen – denn Übervorteilung lauert vielerorts.

Senior
Manchmal wimmeln Firmen Senioren ab, sagt eine Expertin – denn: Sie haben oft viele Fragen und viel Zeit, sie zu stellen. (Symbolbild) - pexels

Das Wichtigste in Kürze

  • Viele Seniorinnen und Senioren haben grosse Angst vor Betrug und Übervorteilung.
  • Die Sorgen sind begründet – können aber auch ins Ungesunde gehen.
  • Gerade im Alltag von dementen Menschen kommt es immer wieder zu Übervorteilung.

Verena Heidiger* (85) lebt alleine in einem Berner Dorf. Seit ein paar Jahren hat sie zunehmend Mühe mit dem Gedächtnis. Das macht sie nicht nur vergesslich, sondern auch misstrauisch. Heidiger hegt eine immer grösser werdende Angst, übers Ohr gehauen zu werden.

Die Familie beobachtet die Entwicklung mit Sorge. Sohn Thomas Heidiger* erzählt bei Nau.ch: «Oft behauptet sie, der Doktor oder der Zahnarzt erfänden Rechnungen, weil sie sie nicht für voll nehmen würden.»

Der Sohn nimmt sie stets ernst und prüfe auch immer genau nach, ob alles stimmt. «Bis jetzt waren keine tatsächlich erfundenen Forderungen dabei», sagt er. Sie habe die Zahnarzt- oder Arzttermine lediglich vergessen.

Die Angst der Rentnerin geht so weit, dass sie gar «ohne Grund Streit» mit Fremden anfängt. «Kürzlich hat sie eine Nachbarin zusammengestaucht, weil sie vermeintlich auf ihrem Parkplatz parkierte.»

In Wirklichkeit hat die Seniorin ihr Auto bereits vor Wochen verkauft – der Parkplatz gehört neu der Nachbarin.

«Paranoide» Seniorin wirft Tochter Diebstahl vor

Dass Ängste im Alter zu Zoff führen können, zeigt auch das Beispiel von Rosa Steinmann* (90). Die Verwandte von Leserin Ursula Binz* ist gesundheitlich angeschlagen, aber nicht dement.

Eine Tochter von ihr hat sich jeweils um ihre Finanzen und ihre Einkäufe gekümmert. «Doch plötzlich wurde sie paranoid und warf der Tochter vor, ihr über Jahre Geld gestohlen zu haben. Das stimmt nicht.»

Der Vorwurf entfacht einen Familienstreit: Einige Familienmitglieder glauben Steinmann und sprechen nicht mehr mit der Tochter. Andere wiederum glauben der Tochter und sprechen nicht mehr mit denen, die der Seniorin glauben.

«Verfolgungswahn»

Mit ihren Ängsten ist Verena Heidiger also nicht allein. Und Sohn Thomas kann ihre Sorgen auch verstehen. «Schliesslich liest man ja immer wieder von Betrügereien.»

Doch grundsätzlich ist für ihn klar: «Sie leidet unter diesen Ängsten. Es gibt für sie kaum ein anderes Thema mehr. Überall sieht sie nur Menschen, die ihr Böses wollen – man muss von Verfolgungswahn sprechen.»

Ängste im Alter sind ein Phänomen, das auch die Seniorenorganisation Pro Senectute kennt. Sprecher Peter Burri Follath sagt zu Nau.ch: «In der Anfangsphase einer Demenz gehen bestimmte Sachverhalte schnell vergessen. Die kognitiven Fähigkeiten reichen währenddessen noch aus, um den Alltag weitgehend selbstständig zu bewältigen.»

Die Situation führe oft zu grosser Verunsicherung. «Nicht selten kommt es auch zu Misstrauen bis hin zur Leugnung der Situation. Besonders diese Phase ist sowohl für die Bezugspersonen als auch für die Betroffenen selbst sehr anspruchsvoll.»

Ab 80 fangen die grossen Probleme an

Dass ältere Menschen übers Ohr gehauen würden, komme vor – sei jedoch die Ausnahme, sagt Burri Follath. Dem widerspricht die forensische Psychologin Henriette Haas. «Ich selbst gehöre mit 66 Jahren auch zu den Seniorinnen und Senioren – das ist eine grosse Gruppe. Betrachtet man alle ab der Pensionierung als Senioren, dann kann man wohl von Ausnahmen sprechen.»

Doch die Probleme fingen meist erst später an. «Ab 80, wenn viele an Demenz leiden, ist Missbrauch verbreiteter.» Einerseits gibt es die krassen Fälle, wo ältere Menschen mit Schockanrufen um zehntausende Franken gebracht werden. «Doch kleinere Fälle von Übervorteilung gibt es im Alltag dieser Menschen immer wieder.»

Mit Übervorteilung ist gemeint, dass Personen und Firmen die Schwächen älterer Menschen ausnutzen, um sich selbst Vorteile verschaffen.

Leidest du unter Ängsten?

Dazu nennt sie zwei Beispiele: «Technologische Hürden, die Firmen einrichten, um etwa Abo-Kündigungen zu verhindern. Oder Bettelbriefe, die gezielt an ältere Personen verschickt werden, weil Organisationen bei ihnen ein leichteres Spiel haben.»

Sie gibt zu bedenken, dass Seniorinnen und Senioren für viele Unternehmen eine finanzielle Belastung sind. «Sie kaufen nicht jedes Jahr das neueste iPad, haben aber viele Fragen und auch Zeit, sie zu stellen.» Da verstehe sie, dass sie manchmal abgewimmelt würden. «Aber es braucht Verständnis!»

Swisscom bestellt demente Frau mit gebrochener Hüfte in Shop

Haas wirft nicht nur Betrügern, sondern «auch ganz normalen Firmen» Übervorteilung und Unverständnis gegenüber Senioren vor. Davon kann auch Nau.ch-Leserin Theresa Küng* ein Lied singen.

«Sogar die Swisscom scheint ruchloser geworden zu sein, um im Markt zu überleben», kritisiert sie. «Als meine demente Mutter ihr Handy verloren hat, wollte ich ihre Nummer sperren lassen.» Leichter gesagt als getan.

Swisscom
Eine Leserin ärgert sich: Die Swisscom wollte, dass ihre Mutter persönlich in den Swisscom-Shop kommt – trotz Demenz und gebrochener Hüfte. - keystone

Denn: «Am Telefon pochte der Mitarbeiter darauf, dass ich das nicht für sie erledigen könne. Obwohl ich sagte, ich sei bevollmächtigt. Sie müsse selbst im Swisscom-Shop vorbeikommen.»

Selbst, als Küng erklärt, die Mutter sei dement und habe eine gebrochene Hüfte, beharrt der Mitarbeiter darauf. Werden der Seniorin also absichtlich Hürden in den Weg gelegt, damit sie die Nummer nicht sperren lassen kann?

Die Ruchlos-Kritik lässt die Swisscom nicht gelten – auch, wenn eine Sprecherin bestätigt, dass eine Vollmacht nötig sei. Nur reiche es nicht, das mündlich mitzuteilen, es brauche sie schriftlich. Es sei also ein Missverständnis gewesen.

Psychologin fordert schärferes Gesetz

Die Frage, bis wann Übervorteilungs-Ängste normal und berechtigt sind und wann sie ungesund werden, sei schwierig zu beantworten. «Die Grenze ist fliessend», sagt Psychologin Haas.

Sie rät Angehörigen jedoch: «Den Hausarzt oder die Hausärztin der Betroffenen kontaktieren. Es ist wichtig, dass sie über die mögliche Demenz und Ängste Bescheid wissen und so die richtigen Fragen stellen können.»

Henriette Haas fordert zudem, dass die Politik beim Thema Übervorteilung von Seniorinnen und Senioren endlich aktiv wird: «Täuschung wird in der Schweiz als Kavaliersdelikt betrachtet. Es braucht eine Gesetzes-Verschärfung!»

Eine solche Initiative hat SP-Ständerat Daniel Jositsch vor über zehn Jahren eingereicht. Er forderte, dass eine Täuschung auch ohne «Arglist» als Betrug gewertet wird. Die Initiative blieb jedoch ohne Folgen.

***

Brauchst du Hilfe?

Leidest du an psychischen Problemen? Dann kontaktiere bitte umgehend die Dargebotene Hand (www.143.ch).

Unter der kostenlosen Hotline 143 erhältst du anonym und rund um die Uhr Hilfe. Die Berater können Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen. Auch eine Kontaktaufnahme über einen Einzelchat oder anonyme Beratung via E-Mail ist möglich.

*Name von der Redaktion geändert

Kommentare

User #5145 (nicht angemeldet)

Was soll man dazu sagen? 90 % der Z-Gen. sind doch paranoid. Hahaha. LOL.

User #2142 (nicht angemeldet)

Der mit dem verkauften Auto und dem Parkplatz ist lustig

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