«Überforderung»: Sexsucht ist auf dem Vormarsch – auch wegen Tinder
Sex gilt als schönste Nebensache der Welt. Doch er kann auch zu einer Sucht werden. Ein Sexologe sieht den Anstieg der Fälle auch dem Zeitgeist geschuldet.
Das Wichtigste in Kürze
- Sexsucht ist in der Schweiz auf dem Vormarsch – auch durch Online-Dating und Corona.
- Stress beim Sex kann zu einem schädlichem Kontrollverlust führen.
- Betroffene holen sich heutzutage früher Hilfe.
Immer mehr Sexsüchtige landen in Behandlung. Die Wartezeiten sind lang, Spezialistinnen und Spezialisten oft Mangelware, meldet das Universitätsspital Lausanne.
Auch der Luzerner Sex-Experte Martin Bachmann berät mehr Sexsüchtige als früher. «Zum Anstieg beigetragen haben Online-Dating und Corona – aber nicht nur», sagt er im Gespräch mit Nau.ch. Bachmann arbeitet als systemischer Paartherapeut und klinischer Sexologe.
Zu Tinder, Bumble und Co. meint er: «Diese Apps sind für viele darauf ausgerichtet, dass man sich für Sex verabreden kann.» Oft schreiben Nutzende mit vielen potenziellen Sexpartnern gleichzeitig. «Das kann zu Stress führen – und sogar zu einem zwanghaften und dranghaften Verhalten.»
Sex als Ausgleich darf nicht überstrapaziert werden
Während Corona schnellte die Nutzungsdauer dieser Apps in die Höhe. Und nicht nur dort: «Einige sind der Einsamkeit in der Selbstbefriedigung und in Pornos entflohen. In manchen Paarbeziehungen ging der Sex in der Eintönigkeit des Alltags verloren», erklärt Bachmann. All dies seien Faktoren, die eine Sexsucht begünstigen.
Zentral für die Zunahme sei aber vor allem ein Punkt: «Über Sex wird heute offener gesprochen, es ist mehr in den Medien. Die Menschen trauen sich schneller, Hilfe zu holen.» Dies sei ähnlich wie bei psychischen Erkrankungen. «Früher gab es sie auch schon, aber die Gesellschaft ist heute aufgeklärter.»
Bachmann sagt, dass das Phänomen auch dem Zeitgeist geschuldet sei. «Wer zu viel Stress hat, für den ist Sexualität oft eine mögliche Entspannungshilfe. Man will sich etwas Gutes tun, zum Beispiel in Form von Solo-Sex.»
Solange man diese Ausflucht aus dem Alltag verträglich gestalte, sei nichts einzuwenden. «Wenn nicht, kann das zu einem schädlichen Kontrollverlust führen. Dann muss die Dosis stetig gesteigert werden.»
Heute geben es viel mehr Möglichkeiten wie Sexpartys oder offene Beziehungen, fügt Bachmann hinzu. «Das ist zwar bis zu einem gewissen Grad alles schön, aber viele sind beim Bewältigen dieses grossen Angebots allein.» Das könne zu einer Überforderung führen.
«Geschlechtsteil und Herz müssen dabei sein»
Neben der WHO-Definition, die Sexsucht als zwanghaftes und dranghaftes Verhalten beschreibt, sieht Bachmann die Selbsteinschätzung als zentral an. «Die Betroffenen kommen meist erst zu mir, wenn sie sich eine Sexsucht selbst eingestehen. Heisst: Wenn der Leidensdruck so hoch ist, dass Sex bloss Stress und keine Lust mehr ist.»
Sexsucht sei ein breites Feld: «Sie kann von Masturbation und Pornos über Paarsex und Besuche im Bordell führen. Bis hin zu einengenden Fetischen und Sex, der nur noch mit Drogen geht.»
Jeder Fetisch sei grundsätzlich etwas Schönes. «Wenn der Fetisch aber zu einem Zwang führt, leiden die Betroffenen darunter. Etwa, wenn man nur noch draussen Sex haben kann.»
Grundsätzlich gelte: «Beim Sex muss sowohl der Körper, die Genitalien als auch das Herz dabei sein.» Sex dürfe einen nicht runterziehen. «Eine sexuelle Selbstsicherheit ist dabei zentral.»
Männer häufiger betroffen
Im Schnitt seien mehr Männer von einer Sexsucht betroffen. «Das Thema Sexualität ist bei vielen Frauen noch immer mit mehr Scham behaftet. Männer müssen sich gesellschaftlich gesehen für Sex interessieren, um potent zu wirken.» Wer sich mehr mit Sexualität beschäftige und dabei unter Druck gesetzt werde, sei logischerweise auch anfälliger für eine Sexsucht.
Bei Frauen sei es eher häufig, dass sie keine Lust mehr auf Sex haben. «Einige haben ein übersteigertes romantisches Bedürfnis, alles muss perfekt sein.» Es brauche immer Rotwein, Kerzen, Blumen und einen Regenbogen. Doch: «Ein solches Hollywood-Szenario ist genauso unrealistisch wie Pornografie.»