Wurden noch mehr Kinder für Schweizer Eltern gestohlen?
Über 1000 Kinder aus Korea wurden zur Adoption in die Schweiz gebracht. Dass bei den Verfahren nicht alles sauber lief, ist bekannt. Nun gibt es neue Vorwürfe.
Das Wichtigste in Kürze
- Internationale Adoptionen stehen seit Jahren in der Kritik.
- Nun stehen neue Vorwürfe im Raum. Auch koreanische Kinder sollen gestohlen worden sein.
- Eine neue Studie zeigt zudem, dass bei Adoptionen aus Indien Gesetze missachtet wurden.
In der Schweiz ist bei internationalen Adoptionen vieles nicht sauber gelaufen – so viel ist bekannt. Zur Erinnerung: Ab den 1970er-Jahren boomten internationale Adoptionen. Zum Beispiel aus Südkorea, Indien und Sri Lanka wurden zahlreiche Kinder eingeflogen.
Seit einigen Jahren weiss man, dass viele dieser Adoptionsunterlagen gefälscht waren. Wie 2020 ein Bericht enthüllte, wurden in Sri Lanka sogar Kinder für Schweizer Adoptiveltern gestohlen.
Doch: Das Ausmass dürfte noch verheerender sein als bisher angenommen.
«Null Bemühungen»
Eine Studie hat kürzlich aufgedeckt, dass die Schweizer Gesetze bei Adoptionen aus Indien systematisch missachtet wurden. Oft fehlten beispielsweise die geforderten Verzichtserklärungen der leiblichen Eltern.
Gleichzeitig erhebt ein US-Adoptivsohn aus Südkorea bei der Nachrichtenagentur «AP» den Vorwurf, er sei gestohlen worden. Nach der Geburt wurde seinen Eltern im Spital gesagt, er sei tot.
Eine Frau, die für eine koreanische Adoptionsagentur arbeitete, sagt heute, sie hatte schon damals ein ungutes Gefühl: Die Agentur habe «null Bemühungen» gezeigt, zu prüfen, ob angebliche Waisenkinder wirklich keine Eltern hatten.
Die Recherchen werfen neue Fragen auf – sind noch mehr Schweizer Adoptivkinder von Dokumentenfälschungen betroffen? Wurden auch für Schweizer Eltern koreanische Kinder gestohlen?
Schweizer arbeiteten mit dubioser Agentur zusammen
Die koreanische Agentur, gegen die besonders viele Vorwürfe im Raum stehen, ist Holt. Unter anderem zahlte sie laut einem Prüfbericht verarmten Müttern höhere «Preise» für ihre Babys, als erlaubt war.
Holt liess auch der Schweizer Organisation Terre des Hommes Kinder zukommen, wie ein Sprecher gegenüber Nau.ch bestätigt. Sie vermittelte in den 1970er Jahren die meisten koreanischen Kinder in die Schweiz.
Die Zusammenarbeit sei aber «aufgrund von Unregelmässigkeiten bereits vor 1977 eingestellt» worden, heisst es. Für viele bereits zu spät – die meisten Kinder aus Südkorea wurden 1975 in die Schweiz gebracht.
Mutter dachte, sie bekommt Baby zurück
Über solche «Unregelmässigkeiten» berichten viele Schweizer Betroffene.
Kim Jaehyong Starzacher (56), Präsident des Vereins Dongari für Adoptierte aus Südkorea, sagt zu Nau.ch: «Ein Grossteil der Schweizer Adoptierten aus Südkorea wurde bei der Einreise als Waisen deklariert. Uns sind mehrere Fälle bekannt, bei denen das gelogen war.»
Zum Beispiel bei Hannah Jenni* (50), die wie Starzacher aus Südkorea adoptiert wurde. «Ich habe zwei Dossiers mit verschiedenen Angaben», sagt sie zu Nau.ch.
In den Einreiseunterlagen für die Schweiz wird sie als Waise ausgewiesen. «Im anderen Dokument stehen ausführliche Informationen zu meiner Familie, die stimmen. Das weiss ich, weil ich sie schon mit 20 Jahren gefunden habe.»
Es ist naheliegend, dass gezielt bei den Einreiseunterlagen gelogen wurde. «Bei Waisen verlangte die Schweiz nämlich kein schriftliches Einverständnis der leiblichen Eltern.» Auch internationale Recherchen zeigen, dass die Waisen-Masche System hatte.
Im Fall von Jenni ist das besonders brisant. Denn: «Meine leibliche Mutter sagte mir, sie sei überzeugt gewesen, dass sie mich wieder zurückerhält. Wer ihr das gesagt hat, weiss ich nicht.»
Sie gibt an, sie als Baby nur für die medizinische Behandlung nach einem Unfall weggeschickt zu haben.
«Aber ich weiss nicht, was ich glauben soll.» Die Möglichkeit bestehe, dass die Mutter das nur aus schlechtem Gewissen sagt.
Leibliche Eltern hatten Motive, zu lügen
Solche Geschichten zeigen: «Ob man wirklich von Kindsentführung oder Diebstahl sprechen kann, ist oft nicht klar», sagt Kim Jaehyong Starzacher. «Zu viele Informationen fehlen.»
Einerseits, weil die Agenturen Recherchen zufolge die Angaben der leiblichen Familien systematisch kaum geprüft haben. Unter anderem aus finanziellen Interessen – denn die westlichen Adoptiveltern zahlten gut.
«Andererseits hatten die leiblichen Eltern wohl oft ein Motiv, selbst nicht die Wahrheit zu sagen.» Zum Beispiel, weil die Mütter vielleicht Angst hatten, es könnte herauskommen, dass sie ein uneheliches Kind hatten.
Starzacher glaubt, er selbst sei einer neuen Beziehung seiner leiblichen Mutter in die Quere gekommen. Denn in Unterlagen, die er gefunden hat, steht, er habe einen jüngeren Halbbruder. «Vielleicht hatte meine Mutter also einen neuen Mann, der mich nicht wollte.»
Mit Unterlagen von falschem Kind in die Schweiz geschickt
Um überhaupt an diese Information zu kommen, musste der Zürcher drei Tage lang im Archiv einer koreanischen Agentur wühlen. Auch die Unterlagen, die ihm als Kind mitgegeben wurden, waren nämlich falsch.
«Alle Informationen darin gehören zu einem anderen Buben. Ich wurde als Ersatz in die Schweiz geschickt, weil seine Grosseltern im letzten Moment entschieden, ihn aufzuziehen.» Das weiss er, weil er mit der Familie des anderen Kindes sprechen konnte.
Seine eigenen Eltern hat er jedoch bis heute nicht gefunden. «Viele Informationen aus den Unterlagen, die wohl wirklich zu mir gehören, stimmen auch nicht.» Etwa die Adresse, an der seine Familie angeblich wohnte.
Dass er vieles wohl nie erfahren wird, kann er inzwischen akzeptieren. «Mir war einfach wichtig, zu suchen.»
«Totales Zerstörungspotenzial»
Andere belastet das Nicht-Wissen mehr.
Die Zürcherin Daniela Meierhofer (49) wurde ebenfalls in Korea geboren und als Baby von Schweizer Eltern adoptiert. Sie warnt: «Diese neuen Zahlen, Daten und Fakten haben ein totales Zerstörungspotenzial. Ich bin überzeugt, dass es Betroffene geben wird, die diese Informationen nicht überleben.»
Weil die Schweiz den Agenturen zu wenig auf die Finger schaute, verlangt sie von den Behörden mehr Anlaufstellen.
Auch Celin Fässler (42), die selbst adoptiert wurde, macht sich Sorgen. Sie arbeitet für den Verein Back to the Roots für Schweizer Adoptierte aus ihrem Herkunftsland Sri Lanka.
Der Verein beobachtet, dass alle neuen Informationen bei Betroffenen eine Reaktion auslösen können. «Als Betroffenenorganisation haben wir in den letzten Jahren einige Suizide von Mitgliedern miterlebt.»
Adoptierte fordern DNA-Datenbanken
Der Verein Back to the Roots fordert, dass kantonsübergreifende Massnahmen für Betroffene aus allen Herkunftsländern geschaffen werden. «Sichere DNA-Datenbanken sind zum Beispiel wichtig.»
Zudem müsse der Zugang zu Dokumenten und Informationen kostenlos sein. Und: «Es braucht unbedingt Angebote für psychologische Unterstützung.»
Gewisse Massnahmen gibt es bereits. Die Organisation Terre des Hommes betont, adoptierte Personen bei der Herkunftssuche zu betreuen.
Für Adoptierte aus Sri Lanka wird die Unterstützung nach dem Bericht über illegale Adoptionen aktuell von Bund und Kantonen bezahlt.
Für Betroffene aus anderen Herkunftsländern fehlt bislang die Finanzierung.
Letzten Freitag haben die Regierungsräte der kantonalen Sozialdepartemente eine gemeinsame Plattform zur Unterstützung bei der Herkunftssuche angekündigt.
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Brauchst du Hilfe?
Hilfe bei der Herkunftssuche für Adoptierte erhältst du unter: www.backtotheroots.net
Beim Bundesamt für Justiz findest du eine Liste mit allen kantonalen Anlaufstellen: www.bj.admin.ch/bj/de/home/gesellschaft/adoption/herkunftssuche.html
Terre des hommes kann unter [email protected] und jeweils mittwochs unter 058 611 06 66 erreicht werden.
Bist du depressiv oder hast du Suizidgedanken? Dann kontaktiere bitte umgehend die Dargebotene Hand (www.143.ch).
Unter der kostenlosen Hotline 143 erhältst du anonym und rund um die Uhr Hilfe. Die Berater können Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen. Auch eine Kontaktaufnahme über einen Einzelchat oder anonyme Beratung via E-Mail sind möglich.
Hilfe für Suizidbetroffene: www.trauernetz.ch
*Name von der Redaktion geändert