Felix Wettstein (Grüne): Die Session des Zurückruderns
Grünen-Nationalrat zieht nach der ersten Session des Jahres im Gastbeitrag Bilanz. Sein Fazit in drei Worten zusammengefasst lautet: es wird zurückgerudert.
Das Wichtigste in Kürze
- Felix Wettstein, Nationalrat der Grüne Schweiz, spricht nach der ersten Session von Frust.
- Er bemängelt im Gastbeitrag, das Parlament sei in vielen Entscheidungen zurückgerudert.
Die Frühlingssession, die am Freitag mit den Schlussabstimmungen zu Ende ging, kann ich in drei Worten zusammenfassen. Es wird zurückgerudert. Zahlreiche Entscheidungen der letzten Jahre oder Monate – teils Volksabstimmungen, teils Parlamentsbeschlüsse, ohne dass das Referendum ergriffen worden wäre – werden nun von einer Mehrheit im Rat wieder in Frage gestellt und umgestossen.
Es braucht schon ein dickes Fell, um den Frust abzufedern. Ein paar Beispiele:
Bauen ausserhalb der Bauzonen
Erst im September letzten Jahres haben wir die zweite Etappe des Raumplanungsgesetzes endlich unter Dach gebracht, zum Thema Trennung von Bau- und Nichtbaugebieten. Daraufhin konnte die Landschaftsschutz-Initiative zurückgezogen werden.
Doch jetzt, noch bevor die Verordnung ausgearbeitet ist, stimmt eine Mehrheit im Nationalrat für die Motion 23.3717 «Mehr Freiraum beim Umbau von landwirtschaftlichen Bauten».
Das ganze Volumen von ehemaligen Bauernhöfen, welche mit Zufahrtsstrasse, Wasser und Strom erschlossen sind, soll zu Wohnungen werden dürfen. Zersiedelung ahoi.
Zweitwohnungen
2012 war die Zweitwohnungsinitiative von Volk und Ständen angenommen worden. Seit 2016 ist das Ausführungsgesetz in Kraft. Und nun stimmt eine Mehrheit des Nationalrats der Parlamentarischen Initiative 20.456 zu: Sie trägt den Titel «Unnötige und schädliche Beschränkungen des Zweitwohnungsgesetzes in Sachen Abbruch und Wiederaufbau von altrechtlichen Wohnungen aufheben.»
Kurz: Die Begrenzung des Zweitwohnungsanteils soll durchbrochen werden.
Biodiversitätsflächen
Vor drei Jahren hatten wir eine Mindestvorgabe von 3,5 Prozent Biodiversitätsförderflächen (BFF) auf den Ackerflächen beschlossen. Zuerst wurde der Start dieser Massnahme nach hinten verschoben, und nun sagt im Nationalrat eine Mehrheit Ja zur Motion 22.3819, welche diese Massnahme gleich wieder ganz abschaffen will. Dazu hinterlege ich auf meiner Webseite einen vertiefenden Beitrag, siehe unten.
Reduktion von CO2
Am 18. Juni letzten Jahres hat die Stimmbevölkerung deutlich Ja zum Klimaschutzgesetz gesagt. Nun lag es an uns im Parlament, das CO2-Gesetz für die Zeit ab 2025 zu aktualisieren. Der Bundesratsvorschlag strotzte zwar nicht vor Ehrgeiz, aber er enthielt doch einige griffige Massnahmen.
Dann wurde vieles verwässert, vor allem im Ständerat, und der Nationalrat knickte ein. Es wird praktisch unerreichbar, dass die Schweiz die Klimaziele erreicht. Wir haben uns in der Schlussabstimmung enthalten.
Trennbankensystem
Fast genau ein Jahr ist es her, seit die Credit Suisse mit Getöse zusammenstürzte und von der UBS geschluckt wurde, was der Bund mit Bürgschaften in Milliardenhöhe stützen musste. Fast alle Parteien hatten daraufhin strenge Auflagen gefordert. Wir GRÜNEN hatten mehrere Motionen eingereicht, um das Risiko einer Monsterbank zu reduzieren, u.a. das Trennbankensystem.
Damals hatte sogar die SVP danach gerufen. Jetzt, wo es zur Abstimmung kam, wollte auf der rechten Ratsseite fast niemand zustimmen. Der Bundesrat verspricht bis Ende April einen Bericht. On verra.
Stimmrechtalter 16
Beide Räte hatten je zweimal der Parlamentarischen Initiative meiner Fraktionskollegin Sibel Arslan zugestimmt. Beide Male verweigerte anschliessend die Mehrheit der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats, eine konkrete Vorlage auszuarbeiten.
Nun hat sie ihr Ziel erreicht: Der Gesamtrat hat das Anliegen begraben. Die Mitte ist inzwischen weit rechts der Mitte. Und zahlreiche engagierte junge Menschen auf der Tribüne rieben sich die Augen.
Werbung fürs Rauchen
Die Volksinitiative «Kinder ohne Tabak» war ein grosser Erfolg. Nun sollte das Gesetz dazu folgen, aber bei der Revision des Tabakproduktegesetzes ging es nicht mehr um Gesundheit, sondern wieder einmal um fragwürdige Wirtschafts- und Werbefreiheit. Dieses Thema vertiefe ich weiter unten.
Tempo 30
In letzter Zeit haben verschiedene Städte oder Vorortsgemeinden auf geeigneten Abschnitten von Hauptstrassen Tempo 30 eingeführt, z.B. Aarau, Köniz, Grenchen (schon vor einigen Jahren), Fribourg praktisch die ganze Innenstadt.
Es ist ein Segen für die Lebensqualität. Nun erreicht ein Vorstoss eine Mehrheit im Nationalrat, der den Gemeinden und Kantonen Tempo 30 auf Hauptachsen faktisch verbieten will.
Und so geht es weiter mit dem Zurückbuchstabieren früherer (sanfter) Errungenschaften. Bei der Revision des Umweltschutzgesetzes will eine Mehrheit die Lärmvorschriften massiv lockern und die Lenkungsabgabe auf flüchtige organische Verbindungen VOC abschaffen. Gut möglich, dass wir uns hier mit dem Referendum wehren müssen.
Ihr denkt nun vielleicht: Gibt es denn gar nichts Erfreuliches zu berichten?
Doch, das gibt es! Wir haben die Gesetzgebung zur Kreislaufwirtschaft verabschiedet, und zwar deutlich: Nur eine Fraktion war dagegen. Ein schöner Erfolg für uns GRÜNE, denn es ist weitgehend die Konkretisierung unserer Initiative «Grüne Wirtschaft», die 2016 von der Gegenseite noch «erfolgreich» bekämpft wurde.