Die Frauenhäuser haben noch immer die gleichen Probleme wie in den 80er-Jahren: kein Geld, kein Platz. Ein Gastbeitrag von Jessica King über grosse Missstände.
Gleichgestellt
Die Schweizer Frauenhäuser haben mit Platzproblemen zu kämpfen – wie in den 80er-Jahren schon. Ein Umstand, den Kolumnistin Jessica King (rechts) kritisiert. - Keystone/zVg

Das Wichtigste in Kürze

  • Jede fünfte Frau in der Schweiz hat schon sexuelle Gewalt erlebt.
  • Noch immer kämpfen die Frauenhäuser mit Platzproblemen.
  • Kolumnistin Jessica King kritisiert, wie oft die Probleme von Frauen vergessen gehen.
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Texte, die mit der Schreibmaschine getippt worden sind, sind emotionaler. Als gutes Beispiel dienen die Jahresberichte aus der Anfangszeit des Berner Frauenhauses: Berichten die Autorinnen über besonders grosse Missstände, werden die Buchstaben dick und pechschwarz, als hätten sie ihren Frust direkt in die Schreibmaschinentastatur gehämmert.

«Platzprobleme nicht nur beim Schlafen, sondern auch beim Essen», schreiben sie im ersten Bulletin. «Die Mitarbeiterinnen sind überlastet», im zweiten. «Häusliche Gewalt ist Ausdruck davon, wie Männer ihre Frauen sehen: Untergeordnet, als Eigentum, womit sie machen können, was sie wollen», im dritten.

Gosteli
Marthe Gosteli (rechts) 1991 im Archiv der Gosteli-Stiftung in Worblaufen BE. - Keystone

Diese Jahresberichte lagern, fein säuberlich verpackt, im Gosteli-Archiv in Worblaufen. Im Gedächtnis der Schweizer Frauenbewegung. 1000 Laufmeter Dokumente, Bilder, Briefe, Tagebücher, Berichte sind hier sortiert, die schonungslos aufzeigen, welche Missstände in der Schweiz geherrscht haben. Und immer noch herrschen.

Frauen gehen systematisch vergessen

Denn wer die Jahresberichte aus den 80er-Jahren liest, merkt schnell: Die Frauenhäuser in der Schweiz kämpfen damals wie heute mit den gleichen Problemen. Zu wenig Plätze, zu wenig Geld.

Dass Frauenhäuser seit 40 Jahren zu kurz kommen, ist jetzt – hoffentlich für die Ewigkeit – im Gosteli-Archiv festgehalten. Letzte Woche hat der Berner Grossrat entschieden, die Beiträge an das Archiv zu erhöhen, und damit sein Überleben gesichert.

Gleichstellung
Frauen und Kinder im Berner Frauenhaus 1980. - Keystone

Diese Nachricht war mein Highlight der letzten Woche – denn üblicherweise gehen Frauen in der Welt der Daten und der Wissenschaft systematisch vergessen. Weibliche Geschichte wird seltener archiviert, weibliche Anliegen weniger erforscht.

Jede fünfte Frau erlebte schon sexuelle Gewalt

Dieser blinde Fleck ist vor allem deshalb bedauerlich, weil Wissen Macht bedeutet. Je mehr Informationen wir zu Gleichstellungsthemen haben, desto eher können wir die Debatten verändern. Seit zwei Jahren wissen wir etwa, dass jede fünfte Frau in der Schweiz sexuelle Gewalt erlebt hat.

12 Prozent haben Sex gegen den eigenen Willen erlebt, 7 Prozent sind mit Gewalt zu Sex gezwungen worden. Aufgrund dieser schockierenden Studie haben mehr Politikerinnen und Politiker Vorstösse zu sexueller Gewalt im Parlament eingereicht. Die Medien haben gross berichtet. Und die Stimmen wurden lauter und mächtiger, die eine Revision des Sexualstrafrechts fordern.

Gewalt
Jede fünfte Frau in der Schweiz wurde schon Opfer sexueller Gewalt. - Keystone

Es gibt genügend Baustellen in der Schweiz, zu denen Fakten fehlen. Bis heute gibt es keine offizielle Stelle, die Femizide aufzeichnet und Statistiken führt, wie viele Frauen pro Jahr aufgrund ihres Geschlechts getötet werden.

Wir wissen viel zu wenig über häusliche Gewalt – wen es genau trifft, wie gross die Dunkelziffer ist. Wie viele Frauen zu Hause leiden, ohne je die Polizei kontaktieren zu können. Diese Wissenslücken schwächen uns. Denn je genauer wir Missstände belegen können, desto präziser können wir sie bekämpfen.

Über die Autorin

In der Kolumne «gleichgestellt» schreiben Jessica King vom überparteilichen Frauendachverband alliance F und Jean-Daniel von männer.ch, dem Dachverband der progressiven Männer- und Väterorganisationen, abwechslungsweise über Themen rund um die Gleichstellung.

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Brauchen Sie Hilfe?

Falls Sie oder eine Person aus Ihrem Umfeld sexuelle Gewalt erlebt haben, wenden Sie sich an die Opferhilfe-Fachstelle in Ihrem Kanton.

Rufen Sie in akuten Situationen die Polizei unter der Telefonnummer 117.

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