Netto-Null-2050 und Migration: Verantwortung sieht anders aus
Das Credo der EU bezüglich Migrations- und Klimapolitik ist identisch, eine verantwortungslose Selbstbezogenheit, schreibt der Klima-Aktivist Julius Florentius.
Das Wichtigste in Kürze
- Julius Florentius ist Klimaaktivist des Klimastreiks.
- Im Gastbeitrag schreibt er über EU-Selbstbezogenheit bei Netto-Null-2050 und Migration.
Ein sauberer Planet für alle nennt die EU ihre Strategie für eine klimaneutrale Gesellschaft bis 2050. So sollen Wohlstand und Sicherheit garantiert werden.
Was der EU klar ist, sieht auch der Bundesrat ein: «Die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kosten eines ungebremsten Klimawandels übersteigen die Kosten von Massnahmen für den Klimaschutz bei weitem.»
Im August 2019 beschloss der Bundesrat deshalb das Netto-Null-2050-Ziel. Wenn man all dies hört, könnte man nur allzu leicht in einen Lobgesang verfallen und meinen, dass wir tatsächlich auf gutem Weg zu einem sauberen Planeten für alle sind.
Das Netto-Null-2050-Ziel
Spätestens 2050 müssen die globalen CO2-Emissionen gemäss dem Weltklimarat netto null erreichen, damit eine Chance besteht, die Klimakatastrophe abzuwenden. Die Schweiz und die EU setzen sich dasselbe Ziel und betonen, damit ihrer Verantwortung gerecht zu werden.
Doch um seinen fairen Anteil an den Lasten zu tragen, muss der Globale Norden einen überdurchschnittlich grossen Beitrag leisten. Dies vor allem aus zwei Gründen: Erstens haben reiche Staaten aus dem Globalen Norden eine historische Klima-Schuld, da sie bis heute den allergrössten Teil der Treibhausgase ausgestossen haben. Zweitens sind diese Staaten aufgrund ihres grösseren Wohlstands eher in der Lage, die Lasten der Massnahmen gegen die Klimakrise zu tragen.
Deshalb müssen diese Länder weit früher null CO2-Emissionen erreichen als jene des Globalen Südens. In Tat und Wahrheit ist also das Handeln der EU und der Schweiz alles andere als verantwortungsvoll. Aus der europäischen Privilegiertheit geht keine faire, sondern eine egoistische Politik zur Erhaltung der Macht hervor.
Schema kennen wir bereits von EU-Migrationspolitik
Doch kennen wir dieses Schema nicht schon? Genau — Ähnliches zeigt sich in der europäischen Migrationspolitik. Auch hier scheint die EU vorwärts zu machen, denn sie investiert im grossen Stil. Das Budget der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache Frontex, welches 2005 noch 6 Millionen Euro betrug, wird 2022 auf 1.1 Milliarden im Jahr gestiegen sein.
Doch die Investitionen in modernste Überwachungstechnik und ein militarisiertes Heer tausender Grenzschützer*innen zeigen klar, dass nicht Menschen in Not und ihr Recht auf Asyl im Zentrum der europäischen Migrationspolitik stehen, sondern die Verteidigung von Sicherheit und Wohlstand. Illegale Pushbacks, bei welchen EU-Kriegsschiffe rücksichtslos Boote mit Flüchtenden zurückdrängen, sind keine Ausnahmen, sondern Strategie und nur ein trauriges Kapitel in der skandalösen Geschichte von Frontex.
Ein System, welches auch die Schweizer Regierung finanziell und personell unterstützt. Und die katastrophalen Zustände an den EU-Aussengrenzen drohen sich durch die Klimakrise weiter zu verschlimmern. Schätzungen gehen von 250 Millionen bis zu einer Milliarde Menschen aus, die in den nächsten 50 Jahren ihre Heimat verlassen müssen — und an geschlossenen Grenzen stranden werden. Auch in der Migrationspolitik scheint das Credo also verantwortungslose Selbstbezogenheit anstatt solidarische Zusammenarbeit zu lauten.
So folgen bei genauerer Betrachtung das Netto-Null-2050-Ziel und das brutale Grenzregime Europas einer gemeinsamen Strategie. An den Toren Europas wird nicht bloss eine geografische Grenze gesichert. Vielmehr ist es der europäische Wohlstand auf Kosten des Globalen Südens, welcher dort verteidigt wird. Dort liegt die Grenze dessen, was die EU vollmundig «ein sauberer Planet für alle» nennt.
Was Europa also tatsächlich klar zu sein scheint, ist, dass seine Klimapolitik ungenügend ist und eine globale Katastrophe befeuern wird. Entsprechend müssen parallel zur Netto-Null-2050-Klimastrategie die Grenzen befestigt werden, damit Privilegien und Profite sowie Nachteile und Ausbeutung dort bleiben, wo sie sind.
Was sich auf Lampedusa und Lesbos zeigt, ist die brutale aber konsequente Umsetzung der Migrations- und Klimastrategien, mit welchen man sich in Brüssel und Bern rühmt.