Nau-Reporter: «So erlebte ich die Zeit bei Amazon»
Das Wichtigste in Kürze
- Immer wieder sorgt Amazon punkto Arbeitsbedingungen in den Lagern für Negativschlagzeilen.
- Englische Ex-Mitarbeiter vom grössten Lager Englands berichten von «Sklaventreiberei».
- Nau-Reporter Nick Mäder arbeitete 2018 für Amazon in Liverpool und berichtet von damals.
Tiefe Löhne, lange Arbeitszeiten und ständige Überwachung. So lauten zumindest die Vorwürfe ehemaliger Amazon-Mitarbeiter. Vor ungefähr eineinhalb Jahren arbeitete ich selber beim König des Online-Handels im Nordwesten von England. Dabei erlebte ich die Arbeitsbedingungen am eigenen Leib.
Fragwürdiger Arbeitsvertrag
An einem Mittwochnachmittag im Mai 2018 fuhr ich das erste Mal zum imposanten Lagerhaus von Amazon, etwas ausserhalb von Liverpool. Zusammen mit etwa 15 anderen Bewerbern füllte ich meine Personalien aus und gab eine Speichelprobe ab. Kurz darauf unterschrieb ich bereits den temporären Arbeitsvertrag, der für die nächsten 39 Wochen gültig war.
Dabei unterzeichnete ich aber nicht etwa für Amazon selber, sondern für deren Rekrutierungs-Firma. Bei möglichen Beschwerden von Arbeitnehmern ist der Online-Gigant also fein raus. Gemäss Vertrag sollten meine normalen Arbeitszeiten zwischen 20 und 40 Stunden pro Woche variieren. Während den Spitzenzeiten der Kundennachfrage seien aber auch bis zu 60 Stunden möglich, was entsprechend entschädigt werde.
Knochenarbeit am Laufband
Als Sortierassistent, wie meine offizielle Berufsbezeichnung war, gibt es verschiedene Unterkategorien. Meistens arbeitete ich während der Nachtschicht, die von Mitternacht bis 9 Uhr dauerte, als «Picker» oder «Scanner».
Erstere Aufgabe ist es, die Pakete vom Laufband zu nehmen und je nach Nummer auf Tischwagen zu sortieren. Dabei ist höchste Konzentration und eine grosse Laufarbeit gefordert.
Auch als «Scanner» werden jede Nacht mehrere Kilometer abgespult. Dabei nimmt man die bis zu 15 Kilo schweren Pakete von den Tischwagen, scannt und legt sie in Säcke. Wie auch als «Picker» wird man dabei ständig von Aufsehern überwacht.
Bei Unachtsamkeit oder falschem Sortieren geht es meist nicht lange, bis man zurechtgewiesen wird. «Wir haben heute über 50'000 Pakete zu sortieren, in deinem Tempo werden wir nie fertig», hörte ich mehr als einmal.
Überstunden als Gewohnheit bei Amazon
Für die harte Arbeit erhielt ich immerhin neun Pfund pro Stunde, was verglichen mit dem nationalen Mindestlohn relativ hoch ist. Einige Monate zuvor lag mein Stundenlohn in einem Fastfood-Unternehmen bei 5.60 Pfund. Als Lernender im ersten Lehrjahr liegt der Mindestlohn heute bei 3.90 Pfund.
Dafür gehören bei Amazon Überstunden zum Alltag. Mindestens zwei bis drei Mal pro Woche dauerte die Arbeitsschicht länger als achteinhalb Stunden. Wer sich nicht freiwillig meldete, länger zu arbeiten, wurde auf eine Liste gesetzt. Am nächsten Tag musste man dann schon eine bessere Ausrede als zuvor bereit haben, um nicht länger zu bleiben.
Nach knapp zwei Monaten hatte ich keinen Bock mehr und beendete das Abenteuer Amazon. Auch wenn ich damit nicht zur Ausnahme gehöre, gibt es durchaus Mitarbeiter, die Amazon jahrelang treu bleiben. Denn in der Arbeiterstadt Liverpool sind die vielen Lagerhäuser-Jobs für Bewohner oftmals die einzige Möglichkeit. Mit einer Arbeitslosenquote von 5,8 Prozent (Stand: Juni 2019) liegt die Stadt weit über dem Durchschnitt des Landes.