Maddie-Verdächtiger vor Gericht – worum geht es im Strafprozess?
Vor beinahe 17 Jahren verschwand die damals dreijährige Maddie McCann spurlos. Ein deutscher Verdächtiger steht nun für andere Verbrechen vor Gericht.
Ein vorbestrafter Sexualstraftäter muss erneut wegen schwerer Vorwürfe vor Gericht. Im Fokus einer breiten Öffentlichkeit steht der 47-jährige Deutsche aber eigentlich wegen eines anderen Falls, der weltweit für Aufsehen sorgte.
Der Angeklagte stand schon einmal in Braunschweig vor Gericht und wurde wegen schwerer Vergewaltigung verurteilt. Ab dem kommenden Freitag muss sich der 47-Jährige dort wieder wegen schwerer Straftaten verantworten. Während der erste Prozess 2019 an der Öffentlichkeit nahezu vorbeiging, ist das Interesse jetzt riesig. Denn seitdem Ermittler 2020 bekannt gaben, dass sie den Deutschen im Fall der vermissten Maddie aus Grossbritannien unter Mordverdacht haben, steht er in einem ganz anderen Fokus.
Warum geht es im Strafprozess?
Vor dem Landgericht Braunschweig muss sich der Angeklagte wegen fünf schwerer Sexualstraftaten verantworten. Dem gebürtigen Würzburger werden drei Fälle schwerer Vergewaltigung und zwei Fälle des sexuellen Missbrauchs von Kindern vorgeworfen.
Die Taten soll der Verdächtige zwischen Ende Dezember 2000 und Juni 2017 in Portugal begangen haben. Die Staatsanwaltschaft Braunschweig hatte im Oktober 2022 nach mehrjährigen und aufwendigen Ermittlungen in mehreren europäischen Ländern eine mehr als 100 Seiten umfassende Anklageschrift vorgelegt.
Dem Mann wird darin vorgeworfen, dass er eine etwa 70 bis 80 Jahre alte Frau in ihrer Ferienwohnung gefesselt und vergewaltigt haben soll. Zudem soll er ein deutschsprachiges Mädchen im Alter von mindestens 14 Jahren nackt an einen Holzpfahl gefesselt, mit einer Peitsche geschlagen und zum Oralverkehr gezwungen haben. Zudem soll er eine 20-jährige Frau aus Irland brutal vergewaltigt und sich vor zwei Mädchen im Alter von zehn und elf Jahren nackt gezeigt und vor ihnen masturbiert haben.
Wo ist die Verbindung zum Fall Maddie?
Am 3. Juni 2020 gaben das deutsche Bundeskriminalamt (BKA) und die Staatsanwaltschaft Braunschweig überraschend bekannt, dass sie im Fall Maddie gegen einen mehrmals vorbestraften Sexualstraftäter wegen des Verdachts des Mordes ermitteln.
Zur besten Sendezeit lief der Bericht über einen verdächtigen Deutschen in der TV-Sendung «Aktenzeichen XY... ungelöst». Obwohl bis heute keine Leiche gefunden wurde, teilten die Ermittler damals mit, dass sie davon ausgehen, dass das Mädchen aus Grossbritannien nicht mehr lebt.
Mit einem Schlag geriet das ungeklärte Schicksal von Maddie wieder in den Blickpunkt. Die damals dreijährige Britin Madeleine McCann war im Mai 2007 im portugiesischen Praia da Luz an der Algarve aus einer Ferienanlage verschwunden.
Die Eltern hatten sie am Abend des 3. Mai 2007 im Appartement gelassen, als sie in einem nahe gelegenen Restaurant mit Freunden assen. Seitdem war der Fall ungeklärt.
Immer wieder haben die Ermittler erklärt, dass es trotz des grossen Interesses und der breiten Berichterstattung wenig Neues gibt und die Ermittlungen ungeachtet der aktuellen Anklage weitergehen.
Was wollen Staatsanwaltschaft und Verteidigung?
Die Staatsanwaltschaft strebt eine Verurteilung des Angeklagten mit Blick auf alle an angeklagten Taten an. «Deshalb wurde ja auch Anklage erhoben», sagte Oberstaatsanwalt Hans Christian Wolters vorab.
Natürlich sei es vom Verlauf der Beweisaufnahme abhängig, ob sich alle Vorwürfe bestätigen und beweisen lassen. Das gelte dann auch für die Frage, welche konkreten Strafen angemessen erscheinen. «Nach Aktenlage muss der Angeklagte mit einer Freiheitsstrafe von bis zu 15 Jahren rechnen», sagte Wolters. Eventuell komme auch eine anschliessende Sicherungsverwahrung in Betracht.
«Wir wollen Freisprüche», sagte dagegen Verteidiger Friedrich Fülscher aus Kiel. Das gelte für sämtliche Anklagepunkte. Ob sich sein Mandant vor Gericht äussern werde oder plane, zu schweigen, liess der Anwalt noch offen. Trotz massiver Vorverurteilungen in der Öffentlichkeit hoffe er auf ein faires Verfahren für seinen Mandanten, sagte Fülscher schon im vergangenen Herbst zur Prozessankündigung.
Das Gericht betonte, dass erst im Hauptverfahren zu klären sei, ob die Vorwürfe zutreffen oder nicht. Jede angeklagte Person gelte bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig. Derzeit sitzt der Angeklagte noch die siebenjährige Haftstrafe für die Vergewaltigung einer US-Amerikanerin im Jahr 2005 ebenfalls im portugiesischen Praia da Luz ab. Diese wäre nach früheren Angaben der Staatsanwaltschaft im September 2025 voll verbüsst.
Wie blickt Grossbritannien auf den Prozess?
Auf der Insel ist das Interesse an dem Prozess erwartungsgemäss gross. Selbst kleinere Entwicklungen, wie die Anzeigen gegen den Angeklagten durch Vollzugsbeamte wegen Beleidigung und der abgelehnte Antrag der Verteidigung, einen Zeugen auszuschliessen, wurden von Medien im Königreich berichtet.
Auch der Fall der Irin, die der Angeklagte im Jahr 2004 mutmasslich in Portugal brutal vergewaltigte und der nun vor Gericht verhandelt werden soll, ist immer wieder Thema in irischen und britischen Medien. Der «Daily Mail» zufolge erhielt die Dublinerin bereits Ende vergangenen Jahres einen Besuch von Behördenvertretern aus Deutschland, die sie über das Verfahren informierten.
Aus Sorge um ihre Sicherheit werde sie strengen Polizeischutz erhalten, hiess es in dem Bericht. Die Frau selbst wurde mit den Worten zitiert: «Ich kann es nicht erwarten, meinem Peiniger in die Augen zu schauen und ihn vor Gericht zu sehen.»
Dass es sich beim Angeklagten um ihren Peiniger handeln könnte, wurde der Irin durch die Berichterstattung über die Vergewaltigung der älteren US-Amerikanerin klar, für die er derzeit einsitzt. Sie habe sich beim Lesen übergeben müssen, «weil es mich direkt wieder zu meiner Erfahrung transportiert hat», sagte sie im Jahr 2020 dem «Guardian».
Erwartet werde, dass die Frau als erste ihre Aussage machen werde, berichtete die «Daily Mail» unter Berufung auf die Staatsanwaltschaft in Braunschweig. Das könne mehrere Tage in Anspruch nehmen.
Die Eltern von Madeleine McCann äusserten sich zu dem Prozess zunächst nicht.
Welche Rolle spielt das Verfahren in Portugal?
Obwohl die Straftaten, die dem Angeklagten zur Last gelegt werden, alle in Portugal stattgefunden haben sollen, stösst der Prozess in Braunschweig im beliebten Urlaubsland auf wenig Interesse. Nur vereinzelte Medien berichteten in den vergangenen Tagen darüber, und meistens nur kurz.
Wenn man sich umhört, hört man vor allem, dass die Menschen den Fall «längst ad acta gelegt» haben. Das sagt etwa auch Filipe, Betreiber eines Cafés in der 33000-Einwohner-Stadt Lagos unweit der Praia da Luz, auf telefonische Anfrage. «Seien wir ehrlich. Das interessiert in England und Deutschland doch nur wegen Maddie so sehr.»
Nicht wichtig ist den meisten Portugiesen der weitere Verlauf um den Fall Maddie auch, da man sah sich nicht nur an der Algarve schon bald nach dem Verschwinden des Mädchens im Mai 2007 von den internationalen Medien ungerecht behandelt, gar stigmatisiert fühlte.
«Überall auf der Welt verschwinden täglich Kinder, es gibt viele Maddies, über die niemand spricht», hört man häufig, wenn man in Portugal nach dem Fall fragt. Viele betonen: «Wir sind keine Verbrecher».
Die letzte grosse Suchaktion an der Algarve brachte im Mai vorigen Jahres keine Fortschritte. Die meisten Portugiesen stimmen wohl mit Gonçalo Amaral überein, dem ersten Chefermittler des Falles, der 2007 schon nach wenigen Monaten nach Kritik an den britischen Behörden vom Fall abgezogen wurde: «Wir werden wohl nie die Wahrheit erfahren.»