Adebar: Immer mehr Kinder erleben sexualisierte Gewalt im Internet
Was Studien schon länger zeigen, bestätigen nun die Sexual-Fachfrauen der Bündner Fachstelle Adebar aus eigener Erfahrung: Immer mehr Kinder und Jugendliche erleben in den sozialen Medien sexuelle Grenzüberschreitungen. Die Fälle von Cyber-Grooming und sexualisierter Gewalt hätten besonders im letzten Jahr beängstigend zugenommen.
Adebar hat sich deshalb entschlossen, an die Öffentlichkeit zu gehen und auf diese wachsende Gefährdung der Kinder und Jugendlichen hinzuweisen, wie Adebar-Leiterin Susanna Siegrist am Mittwoch in Chur vor den Medien erklärte.
Die Fachstelle ist mit ihrem sexualpädagogischen Konzept «Curaschi» in vielen Gemeinden des Kantons tätig. Vom Kindergarten bis zum Gymnasium engagieren sich die Adebar-Fachfrauen in der Prävention von sexuellem Missbrauch.
«Im Unterricht fällt uns in allen Altersstufen vermehrt auf, dass Kinder und Jugendliche über sexuelle Grenzüberschreitungen in den Sozialen Medien berichten», sagte Siegrist. Zudem würden die Übergriffe nun von jüngeren Schülerinnen und Schülern erlebt. Betrafen sie vor zehn Jahren primär die Oberstufe, ereigneten sie sich nun schon in der zweite Hälfte der Primarschule.
In einer 5. Klasse hätten kürzlich von 12 Schülerinnen nur zwei Mädchen erklärt, dass sie noch nie das Penisbild eines Erwachsenen erhalten hätten oder anderweitig belästigt worden wären im Internet, berichtete Sexualpädagogin Corinne Rietmann aus der Praxis. «Und in der Oberstufe ist es dann oft schon selbstverständlich, Penisbilder oder sexualisierte Anfragen zu erhalten.»
Bei der Präventionsarbeit in den Schulen trifft das Adebar-Team mittlerweile in fast jeder Klasse auf Fälle von sexuellen Übergriffen im Internet - sei es Cyber-Grooming, Pornografie oder sexuelle Belästigung durch Kameraden. Cyber-Grooming, die Kontaktaufnahme im Internet mit sexuellen Absichten, fange «so ab der 3. Klasse an». Die Kinder sind dann in der Regel acht Jahre alt.
Sie glaube nicht, dass die Situation in Graubünden sich von der in anderen Kantonen wesentlich unterscheide, erklärte Adebar-Leiterin Siegrist. Aber mit dem Konzept «Curaschi» (rätoromanisch für «Kopf hoch») habe sich das Adebar-Team viel Vertrauen erworben bei Kindern und Jugendlichen. Dadurch erfahre es womöglich mehr, als Fachleute andernorts.
Zahlen aus Graubünden präsentierte Adebar denn auch keine. Die Fachstelle verwies auf die landesweite «James»-Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften und der Swisscom von Ende 2020. Der Studie zufolge haben sexuelle Belästigungen von Teenagern im Internet in den vergangenen sechs Jahren von 19 Prozent auf 44 Prozent markant zugenommen. Mädchen waren mit 55 Prozent häufiger Opfer von sexueller Belästigung als Jungen (28 Prozent).
«Kinder und Jugendliche haben in der digitalen Welt nicht den gleichen Schutz vor sexuellen Übergriffen, wie in der analogen», lautet das Fazit der Adebar-Frauen.
Ein Universalrezept dagegen hat Adebar nicht. Nebst Gesetzen und Polizeiarbeit sei sicher die gesellschaftliche Diskussion der Problematik zentral, meinen die Fachfrauen. Klar sei, dass kein Kind sich selber schützen könne. Vielfach würden sich Kinder und Jugendliche keine Hilfe holen aus Angst, danach den Zugang zu ihrer Lebenswelt in den sozialen Medien verboten zu bekommen.
Die jungen Opfer müssten unbedingt aus der «Schuld- und Scham-Ecke» geholt werden. In der Pflicht stünden da auch die Eltern. «Die Kinder sollen wissen, dass sie mit solchen Erlebnissen zu den Eltern können, ohne Verbote oder Strafen befürchten zu müsse.»