Wegen Google? Zürcher Mieter sollen raus – und wehren sich!
Ein Haus, das an den neuen Google-Standort im Zürcher Kreis 4 angrenzt, wird an ein Architekturbüro verkauft. Die Mieter machen aber nicht mit.
Das Wichtigste in Kürze
- Zwei Mieter kämpfen gegen die Kündigung ihrer Wohnung im Kreis 4.
- Die Schlichtungsbehörde gibt den Mietern Recht, die Kündigungen sind ungültig.
Die Aussenfassade glänzt bereits in der Frühlingssonne, doch bis in den Gebäudekomplex an der Müllerstrasse Mitarbeitende von Google einziehen können, wird es noch etwas dauern.
Nach wie vor werkeln Arbeiter im Innern des neuen Standorts des Tech-Unternehmens. Mittlerweile ist das Baugerüst verschwunden. Mit ihm jedoch nicht die Sorgen der Anwohner um eine bevorstehende Gentrifizierung.
Zwei davon sind die Architekten Mandu dos Santos Pinto und Otto Wenk. Sie haben genug von der gegenwärtigen Entwicklung auf dem Zürcher Wohnmarkt – auch, weil sie selbst davon betroffen sind.
Seit vielen Jahren wohnen die beiden an der Müllerstrasse Nummer 10 im Kreis 4. Wenk im Parterre, dos Santos im vierten Obergeschoss. Das Haus ist alt, das Fischgrätenparkett abgewetzt, die Fensterrahmen marode. Im Fachjargon nennt man so etwas wohl «sanierungsbedürftig».
Trotzdem wurde das Haus vergangenen September für mehrere Millionen Franken verkauft und im Zuge dessen allen vier Parteien gekündigt. Dos Santos und Wenk hätten bereits Ende März ausziehen müssen. Doch sie sind geblieben und setzen sich zur Wehr – gegen das Vorgehen ihrer neuen Vermieter, vor allem aber gegen die Zürcher Wohnpolitik.
Ein Riss, der alles in Wanken bringt
Als Mandu dos Santos Pinto die Tür von seiner Wohnung an der Müllerstrasse 10 öffnet, sind die spiegelglatten Scheiben am Nachbargebäude noch nicht montiert. Es ist Anfang April und die Google-Baustelle gleicht einer Operation am offenen Herzen.
Die letzten Monate seien schlimm gewesen, erzählt dos Santos Pinto beim Rundgang durch die 80 Quadratmeter grosse Wohnung. Der Blick aus dem Fenster eines der vier Zimmer zeigt, dass der 48-Jährige nicht übertreibt: Das Baugerüst grenzt direkt an die Hausfassade.
Der Krach kommt aber nicht nur vom neuen Standort des Techriesen. Auch an der Müllerstrasse 8, die an die Nummer 10 angrenzt, wird seit Oktober 2021 gebohrt und geschaufelt.
Und hier liegt auch der Hund begraben, denn die Misere der Mieter begann mit dem Aushub des Bodens unter dem Nachbarhaus.
«Plötzlich war da dieser Riss in der Wand im Treppenhaus. Ausserdem liess sich meine Haustüre und mein Fenster nicht mehr richtig schliessen», erinnert sich dos Santos Pinto. Dem Architekten sei schnell klar geworden, dass sich das Gebäude um einige Millimeter abgesenkt hatte. In der Regel kein Problem – sofern das Mauerwerk eines Hauses stabil genug ist. Für die Eigentümerin, eine Seniorin aus dem Kreis 6, schien der Riss einen Stein ins Rollen zu bringen.
Ein Preis, der für viele zu hoch ist
Einen Monat, nachdem dos Santos Pinto seine Entdeckung an die Verwaltung weitergeleitet hat, erhalten alle Mieter einen Brief, der sie über allfällige Besichtigungstermine informiert. «Da wusste ich, die Lage ist ernst.»
Also wendet er sich zusammen mit Otto Wenk an die Hauseigentümerin und deren Tochter, Verena Lengen, welche die Wohnungen zu diesem Zeitpunkt verwaltet. In der Hoffnung, eine Lösung zu finden, «die das Quartier von der Gentrifizierungswelle verschont», wie dos Santos Pinto sagt. Doch die Eigentümerin winkt ab. Das Gebäude sei in einem zu schlechten Zustand, ein Umbau finanziell nicht tragbar. Was bleibe, sei einzig der Verkauf. So erzählt es zumindest der Betroffene.
Sie hätten die Entscheidung über den Verkauf ihrer Grossmutter überlassen, erklärt Alexandra Lengen einige Wochen nach dem Besuch an der Müllerstrasse am Telefon. «Es war ihr Haus, also konnte auch sie entscheiden, in wessen Hände es fällt.»
Ein Teil der Mieterschaft habe im Nachhinein Interesse gezeigt, eine Genossenschaft zu gründen. Das sei jedoch an der Investition gescheitert. «Verschenken» habe man das Haus nicht wollen.
Dos Santos Pinto und Otto Wenk gehen davon aus, dass die Liegenschaft für weit über fünf Millionen Franken verkauft wurde. Eigenen Aussagen zufolge wurde ein entsprechendes Angebot eines Interessenten von der Zürcher Kantonalbank, die für den Verkauf beauftragt worden war, abgelehnt.
Und auch die von den Mietern angefragten Stiftungen und Wohnbaugenossenschaften hätten sich aufgrund des Startpreises gegen ein Mitgebot entschieden.
Die Stiftung PWG schreibt auf Anfrage, dass sie die Liegenschaft damals geprüft hätten, aber «die Eckdaten nicht stimmten und der Preis zur Erhaltung von preisgünstigem Wohnraum zu hoch war».
Die Wohnbaugenossenschaft Wogeno kann keine Auskunft über die Anfrage der Mieter von der Müllerstrasse geben. Sie bestätigt jedoch, dass die Startpreise für sie meist zu hoch seien, um mitbieten zu können.
Ein Verkauf, der aufwühlt
Und so kommt es, dass nicht eine Genossenschaft, sondern das Zürcher Architekturbüro Kissling und Roth den Zuschlag erhält. Für wie viel Geld das Grundstück die Besitzer wechselt, wollen weder die neuen Eigentümer noch Alexandra Lengen sagen. Letztere betont aber, dass es nicht an den Meistbietenden gegangen sei.
Das Architektenduo, das bereits einen Neubau an der Müllerstrasse erstellte, fackelt nicht lange. Im Dezember, drei Monate nach dem Kauf, reichen sie die Kündigungen ein.
Einen Monat später – nach Ablauf der Anfechtungsfrist – bieten sie dann allen Parteien noch einen befristeten Vertrag mit 20 Prozent Mietzinsreduktion an. Doch die Bewohner machen nicht mit, niemand unterschreibt.
Otto Wenk kam diese Vorgehensweise von Anfang an merkwürdig vor. Seit dem Jahr 2000 wohnt und arbeitet der 69-Jährige in dem Haus mit der Nummer 10. «Es ist viel mehr als eine Wohnung, es ist mein Zuhause.» Ein Auszug würde einer Entwurzelung gleichkommen.
Dabei nimmt Wenk kein Blatt vor den Mund: Er kritisiert die Vorgehensweise der ehemaligen Eigentümerin, jene des Architekturbüros und ganz grundsätzlich, wie in der Stadt gebaut wird. Dass er seine Bleibe wegen «der Grossschnäuzigkeit und Spekulationswut» eigener Berufskollegen verlassen muss, widerstrebt ihm. Dos Santos Pinto geht es ähnlich: «Es soll wehtun, wenn man spekuliert», findet er. Deshalb entscheiden sie sich, zur Wehr zu setzen und fechten ihre Kündigungen an.
Eine Kündigung, die nicht gültig ist
Über den Mieterband gelangen sie an den Anwalt Peter Nideröst. Mietrechts-Angelegenheiten sind seine Spezialität. Seit 30 Jahren vertritt er Mieter vor Gericht. Mitte März schaffte er bei einem Rechtsstreit am Sihlquai einen Präzedenzfall: Ein Mieter klagte gegen eine Firma, die mit Zwischennutzungen Geld verdiente – und erhielt vor Gericht recht.
Nun steht er Mandu dos Santos und Otto Wenk zur Seite. Vergangenen Dienstag begleitete er die beiden vor die Zürcher Schlichtungsbehörde. «Wir haben darauf plädiert, dass die Kündigungen ungültig sind», so Nideröst nach der Verhandlung, «und zu diesem Schluss kam auch die Schlichtungsbehörde.»
Der Grund: Es liegen weder konkrete Pläne noch eine Baubewilligung vor. Es handle sich also um «eine Kündigung auf Vorrat», wie der Anwalt sagt.
Weil die Behörde kein Gericht ist, spricht man dabei zwar nicht von Urteil, sondern lediglich von einer Empfehlung, doch diese hat es trotzdem in sich: Nehmen die neuen Eigentümer die Urteilsempfehlung an, würde das bedeuten, dass dos Santos Pinto und Wenk in ihren Wohnungen an der Müllerstrasse 10 bleiben können – für mindestens drei weitere Jahre. Dafür sorgt der Kündigungsschutz, der bei laufenden Mietrechtsverfahren automatisch greift.
Eine Gegenpartei, die kämpfen will
Den Architekten David Roth und Martin Kissling steckt die Konfrontation noch immer in den Knochen: «Wir wurden völlig auf dem falschen Fuss erwischt», sagte Kissling zwei Tage nach der Verhandlung. Es sei schade, dass die Mieterschaft mit einem Anwalt zum Termin bei der Schlichtungsbehörde erschienen ist. «Man sollte dort gegenübersitzend über die vorliegenden Differenzen sprechen, verhandeln und sich im Idealfall mit Unterstützung der Behörde finden können.»
In ihrer 20-jährigen Tätigkeit als Architekten seien sie noch nie in einer solchen Situation gewesen. Als kleines Büro mit acht bis zehn Mitarbeitenden würden sie «nicht dem gängigen Bild eines bösen Immobilien-Haies entsprechen, der am laufenden Band alte Häuser leerkündigt und durch Spekulanten-Bauten ersetzt», so der Architekt. Er selbst wohne in der Müllerstrasse, weshalb ihm nicht nur das Quartier, sondern auch das Projekt mit der Hausnummer 10 am Herzen liege.
Zwar bestätigt Kissling die Annahme, dass das 150 Jahre alte Haus abgerissen und durch einen Neubau ersetzt werden soll, weshalb eine Leerkündigung nötig werde. Doch eigenen Aussagen zufolge wird auf dem Grundstück neben dem Google-Sitz ein Holzhaus mit 12 Wohnungen entstehen.
Vorwurf wegen Google wird dementiert
Den Vorwurf von Mandu dos Santos Pinto, darauf Appartements für Angestellte von Google zu erstellen, dementiert er: «Unser Ziel ist es stets, qualitativ hochstehenden Wohnraum auf kleiner Fläche zu fairen Preisen anbieten zu können.» Im Fokus seien dabei immer Familienwohnungen gestanden, mit denen lebendige Stadtquartiere gefördert würden.
Noch diesen Juni würden sie damit beginnen, ein entsprechendes Baugesuch zu erstellen. Ein Weiterverkauf komme für sie nicht in Frage, so Kissling: «Wir werden alle unsere Möglichkeiten ausschöpfen, um im Jahr 2024 wie geplant bauen zu können.» Ob das auch bedeutet, dass sie den Vorschlag der Schlichtungsbehörde ablehnen, lassen die Architekten offen.
Ein Fall, der hohe Wellen schlägt
Dass die Gegenpartei womöglich nicht auf den Vorschlag der Schlichtungsbehörde eingehen will, überrascht Peter Nideröst nicht.
Er räumt seinen Mandanten jedoch auch im Falle eines neuen Prozesses am Mietgericht relativ gute Chancen ein: «An der Schlichtungsbehörde kam klar zum Ausdruck, dass es zum Zeitpunkt der Kündigung noch kein konkretes Bauprojekt gegeben hatte. Aus diesem Grund kann sie erfolgreich angefochten werden.»
Dass das Architekturbüro seiner Schuld nicht bewusst sei, zeige, wie üblich eine solche Vorgehensweise unter Hauseigentümer sei. «Umso wichtiger ist es, dass sich Mieter entschlossen dagegen wehren», so Nideröst. Dadurch würden auch spekulative Hauskäufe gemindert werden können.
Ob sich die Anstrengungen von Mandu dos Santos Pinto und Otto Wenk für sie persönlich lohnen werden, dazu will der Anwalt noch kein Statement geben. Das sei noch zu weit weg – zumal die Strategie der Gegenpartei nicht irrelevant sei.
Als sich die beiden Mieter nach der Verhandlung vor dem Wohnhaus mit der Nummer 10 treffen, spürt man die Erleichterung, von einem «Riesenerfolg» ist die Rede. «Das Ziel ist es, so lange wie möglich in unseren Wohnungen bleiben zu können», sagt dos Santos Pinto. Es sei anstrengend, aber «wir kämpfen weiter», ergänzt Wenk.
Hinweis: Dieser Artikel ist zuerst bei Tsüri.ch erschienen. Autorin Isabel Brun ist (Klima-)Redaktorin beim Zürcher Stadtmagazin.