Das ironische Auge des Olaf Scholz
Konrad Rufus Müller hat alle Bundeskanzler seit Konrad Adenauer fotografiert. Zu manchen fand er nie einen Draht, mit anderen erlebte er historische Augenblicke. Einer hat ihn besonders beeindruckt.
Das Wichtigste in Kürze
- Olaf Scholz, der Undurchdringliche, schaut aufmerksam, aber nicht angestrengt.
Wenn man genau hinsieht, ist sein linkes Auge ein wenig kleiner, was ihm einen leicht ironischen Ausdruck verleiht. Insgesamt wirkt er ungewöhnlich entspannt, was wohl auch daher kommt, dass der Hals nicht von Krawatte und Hemdkragen eingeschnürt wird – er trägt einen Pulli. Das Foto ist im November vergangenen Jahres im Bundeskanzleramt entstanden. Gemacht hat es Konrad Rufus Müller. Der 83-Jährige hat schon sämtliche Bundeskanzler fotografiert, von Konrad Adenauer an.
Seine Bilder unterscheiden sich von anderen Porträtfotografien. Sie sind intensiver – man meint, den Menschen dahinter erkennen zu können. Das, so sagt Müller, käme daher, dass er manche Kanzler über viele Jahre begleitet habe und sie dadurch in besonderen, auch persönlichen Momenten beobachten konnte, in denen ihnen seine Präsenz nicht mehr bewusst war. In anderen Fällen rührt es ganz im Gegenteil gerade daher, dass er sie nur wenige Minuten in Anspruch genommen hat. Für einen kurzen Augenblick, so sagt er, seien Spitzenpolitiker vielleicht bereit, sich auf einen Fotografen einzulassen und ihm wirklich in die Augen zu schauen. «Danach sind sie ganz schnell gelangweilt und genervt – und das sieht man ihnen dann an.»
Analog – nicht digital
Müller macht immer nur sehr wenige Bilder. Er fotografiert noch analog, nicht digital. In seinem ganzen Leben hat er nur zwei Kameras genutzt. Die erste davon, Baujahr 1936, stammte noch von seinem Vater. Er bringt auch nie Scheinwerfer, Stative oder anderes Zubehör mit. Nur seine kleine Kamera. Dafür, so sagt er, sei er oft belächelt worden.
Müller, gebürtiger Berliner, bewohnt in Königswinter bei Bonn einen Bungalow mit einem Garten voller Obstbäume. Sonnenlicht fällt strahlend von draussen herein und beleuchtet den grossen Wohnzimmertisch. Dort hat Müller eine Auswahl seiner Kanzler-Bilder ausgebreitet. Es ist eine Zeitreise zurück bis in die 60er Jahre.
Da ist das unverwechselbare Gesicht von Konrad Adenauer mit der platten Nase und den hohen Wangenknochen, dem Anschein nach geformt durch die Höhen und Tiefen eines langen politischen Lebens. In der Nahaufnahme von Müller sieht man jede Falte, jeden Fleck. Müller war erst Mitte 20, als er Adenauer zu einem CDU-Parteitag und einigen anderen Terminen begleiten durfte. Der erste Kanzler der Bundesrepublik erschien ihm damals wie ein Halbgott. Aber er war keineswegs unnahbar. Wenn Adenauer den steilen Weg von seinem Wohnhaus in Rhöndorf bei Bonn ohne Begleitung hinunterging, warteten unten lediglich sein Fahrer und ein einziger Sicherheitsbeamter. «Da konnten Sie dem Adenauer die Hand geben, mit ihm reden. Heute undenkbar.»
Müller: «Willy Brandt war mein Held.»
Es folgten die beiden anderen CDU-Kanzler der Nachkriegsjahre, Ludwig Erhard und Kurt Georg Kiesinger, und dann der legendäre Willy Brandt. Es ist den Fotos von Müller anzusehen, welche Persönlichkeiten ihn wirklich beeindruckt haben – neben Adenauer war das vor allem der erste SPD-Kanzler. «Willy Brandt war mein Held.» Zu ihm entwickelte er ein so enges Verhältnis, dass er ihn sogar im Urlaub in Norwegen besuchte. Da war Brandt allerdings schon zurückgetreten. Auf Müllers Bildern glaubt man die innere Zerrissenheit und die starken Stimmungsschwankungen des zeitweise schwer depressiven Hoffnungsträgers einer ganzen Generation zu erkennen.
Der kühle Helmut Schmidt liess Müller kalt, anders als sein Nachfolger, der anfangs so bespöttelte Helmut Kohl. Ihn begleitete er auf 52 Auslandsreisen und erlebte ihn in historischen Stunden. Etwa als Kohl im Sommer 1989 einen Spaziergang mit Michail Gorbatschow durch den Garten des Kanzlerbungalows in Bonn machte. Mit erhobenen Greifarmen steht der kolossale Kohl da vor Gorbatschow, so als spiele er für den sowjetischen Staats- und Parteichef eine Theaterszene nach. Müller hat Kohl später gefragt, was er in diesem Moment zu Gorbatschow gesagt habe, aber er hat es ihm nicht verraten.
Im Januar 1990 war Müller dabei, als Kohl François Mitterrand in dessen Haus an der Atlantikküste südlich von Bordeaux besuchte. Müller durfte mit, weil er zuvor ein Fotobuch über und mit dem französischen Staatspräsidenten gemacht hatte und fliessend Französisch sprach. Mitterrand war bis dahin ebenso wie die britische Premierministerin Margaret Thatcher strikt gegen eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten. Müller erinnert sich: «Wir sind dann von Mitterrands Haus aus zum Strand gefahren, und dort hat Kohl im parkenden Auto eine Stunde lang auf ihn eingeredet. Hinterher im Flugzeug hat er gesagt, das wäre der Moment gewesen, wo er ihn rumgedreht und ihn davon überzeugt hätte, dass an der Einheit kein Weg vorbeiführt.»
Zwei Minuten mit Angela Merkel
Später verübelte ihm Kohl, dass er auch zu seinem SPD-Nachfolger Gerhard Schröder einen guten Kontakt aufbaute. Angela Merkel dagegen hat er nur ein einziges Mal kurz vor die Kamera bekommen. «Zwei Minuten, länger war das nicht.»
Müller hat in seinem Leben als freier Fotograf noch zahllose andere Fotoprojekte verwirklicht. Sein Lebenswerk besteht aus insgesamt 2800 Unikat-Fotos, die er gern einem Museum vermachen würde. Überdauern dürften vor allem die Kanzler-Bilder. Er hofft, dass es 2024 zum 75-jährigen Bestehen der Bundesrepublik einen Bildband und eine Ausstellung dazu geben wird. Olaf Scholz habe sich schon bereiterklärt, dafür als Schirmherr aufzutreten, sagt Müller. «Das will ich gerne noch erleben.»