Flucht und Exil: Isabel Allendes «Dieser weite Weg»
Der junge Victor Dalmau erlebt den spanischen Bürgerkrieg. Er geht durch die Hölle, muss fliehen, findet ein neues Zuhause, lernt die Liebe kennen und erleidet neues Unglück. Mit Wärme erzählt von Isabel Allende.

Das Wichtigste in Kürze
- Es ist ein weiter Weg, den Victor Dalmau geht.
Gehen muss. Der junge Katalane hat gerade mit dem Medizinstudium begonnen, als in Spanien der Bürgerkrieg (1936-39) ausbricht. Obwohl an Politik wenig interessiert, beschliesst er, als Sanitäter die republikanische Armee zu unterstützen.
Sein jüngerer Bruder sucht an der Front die direkte Konfrontation mit Francos Armee. Beide jungen Männer stammen aus einer unkonventionellen Familie, die auf wundersame Weise auch noch zu einer Ziehtochter kommt: Roser, Tochter armer Bauern, entpuppt sich als musikalisches Genie, wird später eine anerkannte Pianistin und Orchesterleiterin und fester Bestandteil des Dalmau-Clans.
Ihrer aller Schicksal, im Besonderen aber das von Victor, ist Thema des neuen Romans von Isabel Allende, «Dieser weite Weg». Ja, der Weg (durchs Leben) wird lang und steinig. Als sich immer deutlicher abzeichnet, dass General Francisco Franco (1892-1975) als Sieger aus dem fürchterlichen Gemetzel hervorgehen wird, ergreifen mehr als 500 000 Menschen die Flucht vor dem künftigen Diktator, von dem sie keine Gnade erwarten dürfen. Unter ihnen auch Roser und Carme, die Mutter Victors, und schliesslich auch Victor selbst.
Die Retirada führt nach Frankreich, das - heillos überfordert - die Menschenmassen in notdürftigen und völlig unzulänglichen Lagern an der Küste unterbringt. Kälte, Hitze, Hunger, Krankheit und Tod - die Not der Flüchtlinge ist unbeschreiblich. Das Schicksal Victors - in dieser Phase losgelöst vom Rest der Familie - hat nunmehr ein Mann in der Hand, der damals schon weit über seine chilenische Heimat hinaus bekannt ist: Pablo Neruda (1904-1973). Der spätere Literatur-Nobelpreisträger initiiert und organisiert die Reise für über 2000 dieser unglücklichen Menschen nach Chile, das bereit ist, die Migranten aufzunehmen.
Nicht erst an dieser Stelle beginnt Isabel Allende, historische Fakten und Personen in ihren Roman einzubauen. Die Zustände in der Zweiten Spanischen Republik, der Bürgerkrieg, Francos Aufstieg zum Diktator, die katastrophale Flüchtlingssituation in Frankreich - nicht zuletzt das von Neruda organisierte Flüchtlingsschiff «Winnipeg» sowie Ankunft und Integration der Spanier im Exil sind Tatsachen.
Neben Neruda, aus dessen Gedichten einige Zeilen jedem Kapitel vorangestellt sind, treten weitere historische Persönlichkeiten in Erscheinung: Salvador Allende (1908-1973) - der Onkel der Autorin - , der bestialisch ermordete chilenische Sänger Victor Jara (1932-1973) und auch Pablo Picasso (1881-1973), dessen weltberühmtes Gemälde «Guernica» auf ganz eigene Art die Grauen des spanischen Bürgerkriegs wiedergibt. Selbst die fiktiven Personen sind realen nachempfunden, wie Isabel Allende in ihrer Danksagung schreibt. Zudem bringt sie eine Menge eigene Erfahrungen ein, denn sie war dabei, als sich in ihrer chilenischen Heimat schliesslich etwas Ähnliches ereignete wie Jahrzehnte zuvor in Spanien.
Und das ist auch die persönliche Tragik ihres Helden Victor. Der Mann, der dank Neruda in Chile neue Wurzeln schlägt, erlebt auch hier einen Staatsstreich des Militärs. Wieder muss der - inzwischen erfolgreiche - Arzt fliehen, dieses Mal vor den Schergen des neuen Diktators Augusto Pinochet (1915-2006). Victors Exil in Venezuela ist der Autorin nicht fremd: Nach dem Militärputsch floh sie ebenfalls mit ihrer Familie in das Nachbarland, wo sie 13 Jahre lebte, bevor sie nach Kalifornien zog, wo die 77-Jährige heute noch lebt.
Das eigene Erleben, die Nähe zu inspirierten und authentischen Helden, zu den Schauplätzen, zur ureigensten Geschichte ihrer Familie und ihrem Bekanntenkreis machen das mit Wärme geschriebene Buch besonders. Dieses Opus Allendes hat nicht nur grossen Unterhaltungswert, sondern - im Gegensatz zu einigen ihrer letzten Bücher - auch wieder die Tiefe früher Romane.
In einer Hinsicht ist sich die Autorin, deren Werke über 51 Millionen Mal in 27 Sprachen verkauft wurden, treu geblieben: Erneut ist es ein Zeit und Raum sprengendes Werk, Epochen und Generationen umfassendes, grenzüberschreitendes Familienporträt - fesselnd und unwiderstehlich. «Dieses Buch hat sich von selbst geschrieben, als hätte es mir jemand diktiert», sagt sie. «Ausdenken musste ich mir wenig.» Zwar sei es die aktuelle Flüchtlingskrise gewesen, die sie inspiriert habe. Die Geschichte der «Winnipeg» aber, dem «Schiff der Hoffnung», hörte Allende schon als Kind im Haus ihrer Grosseltern. Sie blieb ihr im Gedächtnis, doch: «Erst heute, 40 Jahre später, kann ich sie erzählen.»