In neuem «Brunetti» wirft ein ferner Krieg seine Schatten
Donna Leon lädt literarisch erneut nach Venedig ein. In «Commissario Brunettis 33. Fall» treffen die Leserinnen und Leser auf die altbekannten Figuren. Aber trotzdem ist alles anders.
Scharfzüngige Kommentare über Touristen, humorvolle Blicke auf das Menschliche und nachdenkliche Betrachtungen der Welt an sich. So kennen die Leserinnen und Leser Donna Leons Krimis mit Commissario Brunetti in Venedig. Jetzt liegt sein 33. Fall vor.
Und wieder sind alle da: der seit gut 30 Jahren nicht alternde Brunetti, seine Frau Paola und die Kinder, der nervige Vice-Questore Patta und die umtriebige Polizeiassistentin Elettra. Und doch ist «Feuerprobe» anders als frühere Bände. Es gibt weder eine mysteriöse Leiche noch ein Verbrechen, das Brunetti aufklären soll.
Es geht um «Baby-Gangs»
«In diesem Buch geht es um mehrere Dinge: Was wir für die Vergangenheit halten, ist nicht unbedingt die Vergangenheit, die war», sagt Leon im Gespräch der Deutschen Presse-Agentur. «Es geht auch darum, was in einem Krieg passiert ist. Und um etwas, das zurückkommt, um dich zu verfolgen. Und es geht um ‹Baby-Gangs›.»
Gemeint sind Jugendbanden, die sich in den Strassen Venedigs aus Langeweile gegenseitig an die Kehle gehen. Es beginnt alles mit einer Mutprobe unter zwei sogenannten Baby-Gangs, die auf dem Polizeirevier endet. Der Vater eines der Beteiligten war einst bekannt als Held, der Kameraden bei einem Einsatz im Irak-Krieg das Leben rettete. Er taucht zufällig in einem anderen Zusammenhang im Dunstkreis von Brunetti auf.
Der wiederum beginnt, dessen Vergangenheit zu beleuchten. «Schlichte Neugier», wie Signoria Elettra richtig feststellt. Fast auf der Hälfte des Buches, immer noch kein Verbrechen. Aber Brunetti entdeckt Abgründe, die ihn erschüttern. Die beiden Männer treffen am Ende auch noch in einem dramatischen Finale aufeinander, bei dem es um Leben oder Tod geht.
Veränderung der italienischen Gesellschaft
Wer einen Krimi sucht, in dem sich alle Details später als Puzzleteile eines Kriminalfalls entpuppen, ist bei Brunettis «33. Fall» fehl am Platz. Vieles bleibt einfach als Facette des Lebens in Venedig hängen. Eine reiche Amerikanerin spaziert durchs Bild, ein schmieriger Anwalt, der einer Polizistin Verführung eines Minderjährigen anhängen will, ein einsamer Kollege Brunettis, der Bronzestatuen sammelt und in Gefahr gerät.
Die Fäden zum eigentlichen Fall sind denkbar dünn. Das sei Absicht, sagt Leon, es spiegele die Veränderung der italienischen Gesellschaft wider. Kontinuität schwinde. «Die Italiener werden immer amerikanischer, grosse Individualisten.»
Aber die klug beobachteten und elegant beschriebenen Facetten des Lebens in Venedig sind ja genau das, was Donna-Leon-Fans so schätzen an den Brunetti-Büchern. «In meinen Büchern geht es eher um Menschen und ihre Gedanken», sagt Leon. «Die Atmosphäre, die Gespräche und die Interaktionen sind wichtiger als die Handlung.» Krimi-Zutaten wie Grusel und Horror sind ohnehin nicht Donna Leons Metier.
«Nichts Spannendes im Fernsehen, warum also nicht ein bisschen Randale»
Da sinniert Brunetti nachdenklich über den Frühling, der ihm «das Gefühl oder die Hoffnung, dass wir noch eine Chance bekommen», gibt. Da wundert er sich, dass in «Männerköpfen zu wenig Platz ist für ein Nebeneinander von Liebe und Wut». Natürlich darf Brunettis Liebe zu den Klassikern nicht fehlen. Es sind dieses Mal die Memoiren des Marquis de Custine, die Leon selbst gerade zum zweiten Mal gelesen hat.
In dieser Hinsicht sei Brunetti ihr Alter Ego, nicht seine ebenfalls belesene Frau Paola, sagt Leon. «Er liest, was ich lese. Er ist mitfühlender als sie, ich mag dieses Sanfte an ihm.» Die 81-jährige Donna Leon bringt hier und da auch die Moderne in die eigentlich zeitlose Brunetti-Serie, erwähnt Instagram und Speichern in der Cloud.
Aber dass sie selbst aus einer anderen Welt stammt, wird nicht nur an der Liebe zu den Klassikern deutlich. Zur Gemütslage der «Baby-Gangs» heisst es an einer Stelle: «Nichts Spannendes im Fernsehen, warum also nicht ein bisschen Randale» – als ob die jungen Leute noch Fernsehen schauten. Leon tut es nicht, wie sie sagt.
Und natürlich bekommen die Touristen, die Leon aus Venedig vertrieben haben, wieder ihr Fett weg. «Boote vom Lido brachten Touristen, die sich auf ihren iPhones anschauten, wie Venedig aussah», ätzt Leon schon auf den ersten Seiten.