Jetzt zu sehen: Die Pistole, mit der sich «Werther» erschoss
Neben Goethe kommt man sich klein vor. Deshalb nähert sich die Bundeskunsthalle dem Nationaldichter jetzt mal anders und zeigt ihn als Kind seiner Zeit. Die Schau ist toll - aber grösser fühlt man sich danach auch nicht.
Das Wichtigste in Kürze
- Hatte Goethe Schwächen? Durchaus.
Er konnte anderen Schriftstellern sehr von oben herab Ratschläge erteilen und vergiftete Komplimente machen. Ausserdem war er sich auf irritierende Weise der eigenen Bedeutung bewusst, so ging er zeitweise nicht mehr ohne einen Orden von Napoleon vor die Tür.
Und er konnte sich leicht aufregen, zum Beispiel über Lärmbelästigung durch die Weimarer Gastronomie. «So ward zuletzt von Morgen bis in die Nacht gekegelt, wobei es denn an Geschrei, Lärm, Streit und andren Unarten nicht gebrach», beschwerte er sich.
Das alles kommt zwar nicht vor in der grossen Goethe-Ausstellung, die am 17. Mai in der Bundeskunsthalle in Bonn startet, aber Kurator Thorsten Valk betont: «Das Letzte, was wir wollen, ist, Goethe wieder auf ein Podest zu heben.» Statt ihn zu stilisieren will die Schau den Geheimrat aus Weimar wieder stärker in seiner eigenen Zeit verorten. Deshalb trägt sie den Titel «Verwandlung der Welt» - in Anlehnung an die epochalen Umbrüche, die Johann Wolfgang von Goethe in seinem langen Leben von 1749 bis 1832 mitmachte. Dazu gehörten die Französische Revolution und der Beginn der Industriellen Revolution.
Am Anfang der Ausstellung stehen zwei einfache Holzlatten, eine lange und eine kurze. Auf der langen steht das Wort «Goethe», auf der kurzen «Im Vergleich dazu irgendein Scheisser». Der Künstler Georg Herold spielt so darauf an, dass man sich neben dem Nationaldichter und Universalgelehrten unvermeidlich klein fühlt. «Des deutschen Volkes besseres Selbst» nannte man ihn früher. Jede Epoche hat sich ihren eigenen Goethe gebastelt und ihn für unterschiedlichste Zwecke vereinnahmt. Diese Wirkungsgeschichte nimmt in der Schau breiten Raum ein.
Es gibt neun Abteilungen, die alle ihre eigene Optik haben. Zitronengelb ist zum Beispiel jene über seine Italienreise. Einerseits war er dem Land verfallen, andererseits schimpfte er auf die chaotischen Italiener - kommt einem bekannt vor. Orangefarben leuchtet die Islam-Abteilung. In seinem «West-östlichen Divan» schrieb Goethe: «Wer sich selbst und andere kennt, wird auch hier erkennen: Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen.» Mit Sätzen wie diesem ist er heute Impulsgeber für interkulturelle Debatten.
Zu den faszinierendsten Ausstellungsstücken gehört die verblüffend kleine Pistole, mit der sich 1772 in Wetzlar Karl Wilhelm Jerusalem erschoss, Vorbild für Goethes «Werther». Er hatte sich die Waffe von einem gemeinsamen Bekannten, Johann Christian Kestner, geliehen. Die Kuratoren der Ausstellung trieben sie nach umfangreichen Recherchen in der Schweiz auf. Erstaunlich war das Merchandising, das rund um den «Werther» - einen der ersten internationalen Bestseller - entstand: Es gab Werther-Schmuck, Werther-Parfüm und Werther-Porzellan.
Goethes Hauptwerk «Faust» mit seiner Grundfrage «Was darf der Mensch?» erscheint angesichts von Genmanipulation und künstlicher Intelligenz heute noch relevanter als in seiner eigenen Zeit. Selbst seine «Farbenlehre», bei der er rein naturwissenschaftlich völlig daneben lag, inspirierte später reihenweise Künstler wie Piet Mondrian und Paul Klee. «Goethe war gut», sang Rudi Carrell. Fast zu gut, möchte man seufzen.
Das ist denn auch das Einzige, was man der Ausstellung vorwerfen kann: Wenn man sie am Ende verlässt, ist man doch wieder masslos beeindruckt von Johann Wolfgang Superstar. Man fühlt sich sozusagen doch wieder wie «irgendein Scheisser». Vielleicht hätte man noch eine zehnte Abteilung hinzufügen müssen mit dem Titel «Goethes grösste Irrtümer». Politisches Gespür etwa ging ihm oft ab, die Französische Revolution verteufelte er, um sich dann Napoleon an den Hals zu werfen. Im übrigen gilt für die Schau: Informationsgehalt: hoch. Unterhaltungswert: beträchtlich. Staubfaktor: null.