Armee & Taskforce zur Spital-Auslastung und Zertifikats-Ausweitung
Die Lage auf den Intensivstationen ist angespannt. BAG, Armee, Kantone und Taskforce beurteilen die Lage im Hinblick auf eine Ausweitung der Zertifikatspflicht.
Das Wichtigste in Kürze
- Die Auslastung der Intensivstationen ist nach wie vor hoch.
- Flacht der Trend ab oder droht eine Überlastung des Gesundheitswesens?
- Fachleute von Bund und Kantonen zur Notwendigkeit der Ausweitung der Zertifikatspflicht.
Die Experten von Bund und Kantonen sind trotz stagnierender Fallzahlen sehr besorgt. Einerseits habe die Schweiz eine der höchsten Infektionsraten Europas. Dank der Impfung gebe es zwar weniger schwere Fälle. Die meist Ungeimpften auf den Intensivstationen lassen aber nach wie vor die Zahl der freien Intensivbetten knapper werden.
Gerade bezüglich Impfrate sei die Schweiz ebenfalls im Hintertreffen, betont die Präsidentin der Taskforce, Tanja Stadler. Mit 58 Prozent Geimpften in der Bevölkerung liege man hinter anderen westeuropäischen Nationen. Positiv sei, dass wieder mehr geimpft werde, nämlich rund ein Prozent der Bevölkerung pro Woche. Doch so dauere es bis Weihnachten, bis die Schweiz auf dem Level von Spanien, Frankreich oder Grossbritannien sei.
Ausweitung der Zertifikatspflicht im Fokus
Ökonom Marius Brühlhart führte aus, dass es rein wirtschaftlich betrachtet wohl keine Gründe gegen die Ausweitung der Zertifikatspflicht gebe. Restaurants, Veranstalter und Fitnesszentren hätten lediglich minimale Einbussen, aber dafür sich sicher fühlende Kundschaft.
Stadler wollte dem Bundesrat, der morgen seine wöchentliche Sitzung abhält, keine Forderungen mit auf den Weg geben. Rein epidemiologisch betrachtet seien strengere Regeln bei Zertifikaten aber wirksam. Der Bundesrat hatte letzte Woche darauf verzichtet, einen diesbezüglichen Entscheid zu fällen.
Am heutigen Point de Presse sind waren anwesend:
- Virginie Masserey, Leiterin Sektion Infektionskontrolle, Bundesamt für Gesundheit BAG.
- Andreas Stettbacher, Delegierter des Bundesrates für den Koordinierten Sanitätsdienst KSD.
- Michael Jordi, Generalsekretär, Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren GDK.
- Tanja Stadler, Präsidentin, National COVID-19 Science Task Force.
- Marius Brülhart, National COVID-19 Science Task Force.
Das Protokoll der Medienkonferenz mit den Experten
15:25 «Wann passieren Übertragungen? Wenn wir Kontakte haben», fasst Tanja Stadler die epidemiologische Seite bei der Zertifikatspflicht zusammen. Insofern würde eine Ausweitung der Zertifikatspflicht zu weniger Ansteckungen führen.
Stadler hütet sich aber dafür, direkt eine Ausweitung der Zertifikatspflicht zu fordern. Sie erinnert stattdessen an das Schweizer-Käse-Modell. Wenn mit genügend – löchrigen – Massnahmen insgesamt eine komplette Abdeckung erreicht werde, habe man eine gute Strategie.
15:20 Werden Privatspitäler vermehrt einbezogen? Das sei heute schon der Fall, betont Michael Jordi. Die Kantone hätten gestaffelte Konzepte. Er sei überzeugt, dass die Privatspitäler noch verstärkt in die Kapazitäts-Planung miteinbezogen würden.
15:18 Was wäre der Vorteil von «2G»? Also dass nur Geimpfte und Genesene noch ein Zertifikat erhalten. Die Frage geht an Tanja Stadler von der Taskforce.
Die Getesteten seien massgeblich für Ausbrüche und Superspreader-Events verantwortlich, betont Stadler. Das habe man auch im Vergleich bei «2G»- und «3G»-Anlässen im Ausland gesehen.
15:12 Ökonom Marius Brühlhart wird direkt angesprochen im Hinblick auf die Ausweitung der Zertifikatspflicht. Was sind die wirtschaftlichen Konsequenzen. Die Frage sei aus rein wirtschaftlicher Sicht, welcher Faktor eher zum Tragen komme. Einerseits gebe es die Menschen, für die die Zertifikatspflicht ein Hindernis darstelle.
Andererseits gebe es diejenigen, die sich in Zertifikats-Umgebung sicherer und wohler fühlten. Drei Viertel der Bevölkerung sei entweder doppelt geimpft oder noch zu jung, um geimpft zu sein. Dies lässt Brühlhart dann so stehen.
Interessant:
— Marius Brülhart (@Marius_Brulhart) September 5, 2021
Laut @GastroSuisseCH-Mitgliederbefragung kosten die geltenden Einschränkungen die Gastronomie ~30% vom üblichen Umsatz.
Bei Umstellung auf #CovidZertifikat wären das ~35%.
Aus Sicht der Branche wäre Zertifikatspflicht also ~gleichwertig.
👉 https://t.co/anqmLIUMh9 pic.twitter.com/qsf6AuMO1m
15:10 Warum gibt es vom BAG noch immer kein Meldesystem für Schulen und Kindergärten? Man sei im regelmässigen Kontakt mit den kantonalen Stellen. Die Kantone hätten die Übersicht, wo wie viele Fälle aufträten.
15:08 Derzeit akzeptiere man in den jüngeren Bevölkerungsteilen ein natürliches Boostern via Ansteckung, führt Stadler aus. Zum einen sehe man, dass die Immunantwort sehr gut sei. Aber so lange man nicht mehr zu Longcovid wisse, wäre sie sehr vorsichtig zu sagen, dass alle doppelt Geimpften keine Angst haben müssten.
15:03 Warum gibt es nicht wie in früheren Wellen 1'500 Intensivbetten und wie könnte man wieder dorthin kommen? Das liege daran, dass man jetzt soweit möglich im Normalbetrieb weiterarbeite. Darum würden in den Spitälern keine zusätzlichen Ressourcen frei, so Andreas Stettbacher. Um dies wieder zu erreichen, müsste aber auch das öffentliche Leben wieder zurückgefahren werden: «Das wollen wir um jeden Preis vermeiden.»
Michael Jordi warnt: «Es werden mehr Leute sterben, wenn weniger Pflegefachpersonen pro Patient im Einsatz sind.» Es könnten zum Beispiel Beatmungsschläuche eher verrutschen, was dann zu Notsituationen führe.
15:00 Die Datenlage bezüglich Booster sei nicht eindeutig, aber es gebe Anzeichen, dass insbesondere bei der älteren Bevölkerung der Impfschutz nachlasse. Auf Dauer erwarte man, dass die Hersteller die Impfstoffe auf die neuen Varianten anpassten. Aber auch ohne Anpassung wäre der Impfschutz mit einer Booster-Impfung dann wieder sehr gut, so Stadler.
14:55 Wie viel Luft ist noch drin bei den Kapazitäten der Intensivstationen? «Eine sehr gute Frage», meint Andreas Stettbacher. Denn wie erwähnt gebe es solche Intensivstationen mit gar keinen, solche mit vier Reserve-Einheiten. In den Regionen sei es sehr unterschiedlich, stark belastet seien die Genfersee-Region und die Region Zürich.
Wenn eine Region keine Plätze mehr habe, müssten für Unfallopfer Plätze in angrenzenden Regionen gesucht werden. Unter Umständen könne so das nächstgelegene Spital von Ambulanzen nicht angefahren werden.
14:50 Stettbacher erläutert auf Nachfrage das Prozedere bei den Rückführungen. Zunächst werden die Patienten medizinisch beurteilt und die Kantonszugehörigkeit geklärt. Ungefähr 10 Prozent der rund 80 Patienten seien medizinisch dringend und sollten innert Wochenfrist repatriiert werden.
Dann werden die Patienten den Kantonen gemeldet. Der Zustand der Patienten könne sich aber auch ändern. In der Verantwortung seien die Kantone, entsprechende Kapazitäten bereitzustellen. Falls keine Kapazitäten vorhanden seien, unterstütze der KSD bei der Suche.
14:47 Woher kommt die Differenz in den Zahlen bei der Auslastung der Intensivstationen? Das BAG publizierte 77 Prozent Auslastung, der KSD spricht von 84 Prozent. Andreas Stettbacher erläutert, dass die Zahlen zwar auf der gleichen Datengrundlage basierten. Aber es gebe einerseits Änderungen im Tagesverlauf, andererseits habe der KSD die nicht-zertifizierten Betten miteinbezogen.
14:40 Die Fragerunde beginnt mit den neusten Erkenntnissen zur My-Variante. Virginie Masserey erläutert, dass das BAG die Lage beobachte. Vorderhand sei die My-Variante aber nicht von grosser Relevanz in den Überlegungen des Bundes.
Stadler betont, dass die Variante bereits Anfang Jahr in Kolumbien aufgetreten sei. Dort sei sie dominant, aber in Ländern mit dominanter Delta-Variante sei kein Effekt festzustellen gewesen. Zwar habe die My-Variante einige problematische Mutationen bezüglich Impfschutz, so wie andere Varianten auch. Im Moment sei die Hauptsorge aber bei der Delta-Variante.
14:35 Michael Jordi von der Konferenz der Kantonsregierungen erläutert das Vorgehen bei der Rückführung von Patienten, die sich im Ausland in Pflege befinden. Dann wechselt aber auch er zum Thema Intensivpflege. Er betont, dass man den Personal-Aspekt keineswegs vernachlässigt habe. Aber: «Wir sind nach wie vor nicht in einer normalen Situation, auch wenn wir uns Normalität wünschen.» Auf Intensivstationen tue man das Möglichste.
14:25 Andreas Stettbacher vom Koordinierten Sanitätsdienst rekapituliert die Lage bei den hospitalisierten und auf Intensivstationen liegenden Patienten. Der kritische Faktor sei das Personal. Verschiedene Kantone hätten nicht-zertifizierte Intensivbetten in Betrieb genommen.
130 Intensivbetten, verteilt auf 150 Spitäler, seien noch in Reserve. Pro Intensivstation ergebe dies 2,4 Reserve-Intensivbetten. In Realität seien diese Kapazitäten aber sehr ungleich verteilt.
Die Spitäler seien alle bemüht, freie Kapazitäten zu schaffen. Dazu müssten aber Patienten verlegt werden, betont Stettbacher. Damit könnten aber die Notfall-Aufnahmekapazitäten für Intensivbetten aufrecht erhalten werden.
14:20 Rund 58 Prozent der Bevölkerung in der Schweiz sei geimpft. «Das ist eine der niedrigsten Quoten innerhalb von Westeuropa», mahnt Stadler. Die Impfgeschwindigkeit sei auf rund 1 Prozent der Bevölkerung gestiegen. Das reiche aber nicht: So dauere es bis Weihnachten, um Quoten zu erreichen, wie sie Frankreich, Spanien oder Grossbritannien bereits heute hätten.
Stadler erläutert ein Paradoxon, das immer wieder Zweifel an der Impfung aufkommen lässt. Ältere Menschen sind vermehrt geimpft, bei den Jüngeren ist der Anteil doppelt Geimpfter kleiner. Kommt es zu Impfdurchbrüchen, sind diese bei den (zahlreicheren) älteren Personen häufiger. So entstehe der falsche Eindruck, dass die Impfung nicht gut wirke.
14:17 Stadler warnt, dass in einigen Kantonen die Intensivbetten so knapp geworden sind, dass bereits Eingriffe verschoben werden müssten. «Mit möglicherweise schweren gesundheitlichen Folgen für alle Menschen, die auf ein Spitalbett angewiesen sind.»
Der Anteil der eingewiesenen Reiserückkehrer betrage nur noch ein Viertel. Trotzdem gehe die Zahl der Hospitalisierten nicht zurück. Eins sei den meisten gemeinsam: Sie seien überwiegend ungeimpft.
14:14 Taskforce-Präsidentin Tanja Stadler warnt, man dürfe sich von der Stagnation der Fallzahlen nicht täuschen lassen. Die Lage auf den Intensivstationen spitze sich weiter zu. Das Erreichen der gesteckten Ziele sei derzeit ungewiss.
«Die Kinder sind nicht nur einem gesundheitlichen Risiko ausgesetzt. Sie sind auch den psychischen und sozialen Belastungen der Massnahmen ausgesetzt, welche bei grossen Ausbrüchen ergriffen werden.» Je länger das Virus in den Schulen zirkuliere, desto länger bestehe die Belastung für die Kinder.
14:10 Hospitalisiert werden grossmehrheitlich Ungeimpfte. Masserey führt noch einmal aus, warum sich auch Genesene impfen lassen sollten. Sechs Monate nach der ersten Erkrankung habe man vermehrt erneute Ansteckungen festgestellt.
Booster-Impfungen sind weiterhin kein Thema, da sie auch noch gar nicht zugelassen seien. Es gebe noch zu wenig Daten, um die Impfstrategie diesbezüglich zu ergänzen. Da es immer noch keine Zulassung für die Impfung von unter 12jährigen gebe, stelle man in der Tat eine erhöhte Inzidenz bei dieser Altersgruppe fest.
14:00 Virginie Masserey vom BAG spricht von einer Stagnation bei den Fallzahlen, aber die Situation bleibe angespannt. 89 neue Hospitalisationen seien heute zu verzeichnen. Im Intensivbereich bleibe die Anzahl Patienten hoch.
Die Schweiz habe aktuell die höchste Inzidenz in Europa, betont Masserey. Dies betreffe insbesondere die jüngeren Altersgruppen. Die aktuelle Virus-Variante verursache mehr schwere Fälle, auch bei Jungen und Personen ohne Vorerkrankungen.