Claude Longchamp: Das grosse Misstrauen ist ausgebrochen
Erstmals misstrauen mehr Menschen dem Bundesrat, als sie Vertrauen in ihn haben. Darum geht es unter anderem im dritten Teil des Politik-Jahresrückblicks 2024.
Das Wichtigste in Kürze
- Politologe Claude Longchamp analysiert für Nau.ch das Jahr 2024.
- Im dritten und letzten Teil geht es unter anderem um das Vertrauen in den Bundesrat.
Aussenpolitischer Höhepunkt war die erste Friedenskonferenz zum Ukraine-Krieg in der Schweiz. Sie fand weitgehende Anerkennung, blieb aber ohne greifbares Ergebnis. Nicht eingeladen war die Kriegspartei Russland. Angestrebt wird eine zweite Konferenz unter Einbezug Russlands.
Alt Bundesrat Alain Berset wurde zum neuen Generalsekretär des Europarats gewählt. Sein Programm baut auf Frieden und Demokratie. Gegen seine Wahl gab es innenpolitische Opposition, und die Ukraine stimmte nicht für ihn.
Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilte die Schweiz für ihre Klimapolitik. Geklagt hatte eine Gruppe von Klima-Seniorinnen.
Das Parlament wehrte sich, denn das Urteil missachte Gewaltenteilung und Souveränität. Einen Austritt aus dem Europarat, den die SVP verlangte, lehnte es aber ab.
Welt
Die Studie Sicherheit 2024 der ETH zeigte den Pessimismus bezüglich der weltpolitischen Lage auf einem Tiefpunkt. Nur 18 Prozent der Befragten sehen die Zukunft der Weltpolitik optimistisch, was den niedrigsten Wert seit Beginn der Messungen 2015 darstellt. Trotzdem bleibt das Sicherheitsempfinden in der Schweiz hoch. Stabile 92 Prozent fühlen sich sicher.
Der Lagebericht des NBD nannte Russland als wichtigsten Unsicherheitsfaktor. Die Kooperation mit China und Nordkorea im Ukraine-Krieg habe die geopolitische Lage verschärft. Spionage und Terror würden zudem zunehmende Risiken bergen.
Sorgen der Bürgerschaft
Als wichtigster Graben erscheint in Umfragen die Kluft zwischen Reich und Arm. Namentlich Familien mit (mehreren) Kindern fürchten sich davor, dass Krankenkassenprämien, Mieten und Lebenshaltungskosten steigen.
Danach folgt der Gegensatz zwischen Einheimischem und Fremden. Weniger stark wahrgenommen werden Alters-, Geschlechter und Siedlungsunterschiede.
Krankenkassenprämien respektive das Gesundheitswesen stehen zuoberst bei den politisch relevanten Alltagssorgen der Stimmberechtigten. Das hat sich gemäss UBS-Sorgenbarometer auch im Jahresvergleich nicht verändert.
Gemäss Chancenbarometer von Strategie 21 haben sich die Einstellungen zur Zuwanderung akzentuiert. Der Bericht spricht von aufbrechenden Wachstumsschmerzen. Ein generelles Zuwanderungsverbot wird abgelehnt.
Es steigt jedoch der Handlungsbedarf und die Chancen sinken. Diese sieht man bei der AHV-Finanzierung, der erhöhten Diversität der Schweizer Gesellschaft und dem Personal im Gesundheitswesen.
Institutionen
Der neue UVEK-Vorsteher Albert Rösti (SVP) startete mehrere Initiativen, so das Wolfsabschuss-Programm, den Gegenvorschlag zur Halbierungsinitiative, und die erneute Zulassung der Kernenergie. Mehrfach gewann er als Bundesrat Volksabstimmungen; beim Autobahnausbau unterlag er allerdings.
Aktuell rangiert Rösti beim wahrgenommenen Einfluss der Bundesratsmitglieder bereits vor Karin Keller-Sutter (FDP) und Viola Amherd (M). Es folgen Guy Parmelin (SVP), Beat Jans (SP), Ignazio Cassis (FDP) und Elisabeth Baume-Schneider (SP).
Gegenüber den Vorjahren fällt die eher marginale Stellung der SP-Mitglieder im Bundesrat auf: Beat Jans kämpft noch mit der politischen Akzeptanz insbesondere seiner Asylpolitik, Baume-Schneider musste lange auf ihren ersten Abstimmungserfolg bei der EFAS-Vorlage warten.
Gemäss Burson Influence Index 2024 dominieren nach Innen konservative Politiker. Nummer 1 ist Hannes Germann (SVP, Schaffhausen, Ständerat), gefolgt von Thomas Aeschi (SVP, Zug, Nationalrat) und Peter Hegglin (Die Mitte, Zug, Ständerat).
In der Aussenwirkung rangieren Mitte/Links Exponenten vorne. Gerhard Pfister (Die Mitte, Zug, Nationalrat), Jon Pult (SP, Graubünden, Nationalrat) und Daniel Jositsch (SP, Zürich, Ständerat) sind ganz oben. Die Resultate der Studie blieben aber nicht ganz unbestritten.
Grosse Aufmerksamkeit bekam ein Gerangel des Fraktionspräsidenten Thomas Aeschi mit Sicherheitskräften im Bundeshaus während des Besuchs des ukrainischen Parlamentspräsidenten.
Ein Video dazu ging rasch viral. Die Immunitätskommission des Nationalrats beschäftigte sich damit, der Entscheid steht noch aus.
Vertrauen
Eine grössere Debatte entzündete sich 2024 am Institutionenvertrauen. Abstimmungsniederlagen, kritische Medien und verschiedenartige Oppositionsbestrebungen gaben Anlass dazu.
Die VOX-Analysen nach eidg. Abtimmungen zeigen ein deutliches Ansteigen des Misstrauens in die Behörden im Berichtsjahr; der Anteil stieg auf 47 Prozent. Ende Jahr war es erstmals verbreiteter als das Vertrauen (42 Prozent).
Für die Schweiz ist das unüblich. Noch zu Beginn des Jahres 2022 vertrauten 71 Prozent dem Bundesrat, nur 23 Prozent waren misstrauisch.
Mehrfach spekuliert wurde, diese Trendwende sei eine mittelfristige Folge der Pandemiemassnahmen. Immunologe Christoph Berger, während der Pandemie Chef der Impfkommission, übte Selbstkritik. Den Impfgegnern reichte das nicht; sie forderten eine umfassende Wiedergutmachung.
Ende Berichtsjahr wurde zudem der parlamentarische Untersuchungsbericht zum CS-Untergang vorgestellt, der die Verantwortlichkeiten klärt. Er kritisierte insbesondere den VR und die GL der CS, die mangelnde Aufsicht der Finma und das Vorgehen von alt-Bundesrat Ueli Maurer.
Die PUK hielt zudem fest, zwischen 2010 und 2022 habe die CS 32 Milliarden Franken Verluste geschrieben und 38 Milliarden Franken Boni ausbezahlt.
Rücktritte verlangte die PUK keine; sie forderte Konsequenzen bei der «Too Big to fail»- Gesetzgebung, eine Erhöhung der Eigenmittel, eine Stärkung der Finma in ihren Kernaufgaben, einen Umbau des UBS-Verwaltungsrats und ein verbesserter Informationsaustausch.
Die FDP sah die Krisenbewältigung durch BR K. Keller-Sutter gewürdigt. Die Mitte verlangte mehr Eigenmittel bei Grossbanken. Die SP will Boni abschaffen und die UBS aufteilen.
Zweifel am Funktionieren der nationalen Institutionen gab es bei Indiskretionen aus dem Bundesrat. Harsch kritisiert wurden zudem Fehlprognosen bei der AHV Das Bundesgericht lehnt jedoch eine Klage der Grünen und SP-Frauen ab, die eine Aufhebung der Abstimmung über die knapp angenommene AHV21 verlangte. Schliesslich wurden auch Missbräuche beim Sammeln von Unterschriften für Initiativen aufgedeckt.
Alles in allem: «Unterschriftenbschiss» ist das Wort des Jahres!
Nachwort: Globale Entwicklung
Auch das globale Superwahljahr 2024 mit Wahlentscheidungen in Indien, den USA, Japan, Grossbritannien, Frankreich, Portugal und der EU bescherten den jeweiligen Regierungen Einbussen in den Parlamenten, die allerdings nicht durchwegs zu Regierungswechseln führten.
Lange Amtsdauer, die gestiegenen Energiepreise, die Folgen der Pandemie bei der Verschuldung oder Wirtschaftsankurbelung, schliesslich auch der polarisierte Diskurs speziell in Massenmedien, werden als Gründe genannt.
Die EU-Kommission wurde unter Einbezug rechtspopulistischer Kräfte neu besetzt.
Die US-Wahlen mit dem Sieg von Donald Trump dürften sich auf Europa und die Schweiz aus. Beflügelt werden dadurch protektionistische Wirtschaftspolitik, konservatives Gesellschaftskonzept und ein libertäres Staatsverständnis. Namentlich gegenüber dem Krieg in der Ukraine und der Nato wird eine neue Politik der USA erwartet.
Kritisch eingewendet wurde in Leitartikeln, die Verbindung von Trump zu Elon Musk führe zu einer plutokratischen Herrschaftsform. Dabei wird der Einfluss reicher Leute auf die Regierung nicht durch Stimmen, sondern durch Geld und soziale Medien ausgeübt.