Polit-Rückblick 2024: Grossprojekte stehen vor der Bewährung

Claude Longchamp
Claude Longchamp

Bern,

2024 endete mit einem Super Friday: Die EU-Vertragsverhandlungen wurden abgeschlossen und das Parlament nahm das Sparbudget 2025 an.

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Amherd und von der Leyen konnten am 20. Dezember gute Neuigkeiten vermelden. - keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • Politologe Claude Longchamp analysiert für Nau.ch das Jahr 2024.
  • Im zweiten Teil geht es etwa um die EU-Verhandlungen und das Sparprogramm des Bundes.

Das neu verhandelte Paket zur Stabilisierung der Beziehungen mit der Europäischen Union sieht eine dynamische Rechtsübernahme in den bestehenden Verträgen vor. Sie soll aber nur Binnenmarkt-relevante Bereiche betreffen. Noch kommen drei Spezialabkommen hinzu.

Bei schwerwiegenden wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Problemen kann die Schweiz die Schutzklausel direkt anwenden. Streitbeilegungen sollen mehrstufig geregelt werden, der Europäische Gerichtshof nur bei Uneinigkeit beigezogen. Ab 2030 zahlt die Schweiz jährlich 350 Millionen Franken in den Kohäsionsfonds.

Longchamp
Politologe Claude Longchamp blickt für Nau.ch auf 2024 zurück. - Nau.ch

Der Bundesrat zeigte sich mit dem Verhandlungsergebnis zufrieden. Er sieht die Souveränität gewahrt.

Negativ reagierte die SVP, für die es sich um eine Unterwerfung unter die EU handelt. Zögerlich positiv haben sich FDP- und Mitte-Spitzen geäussert. Hinter das Ergebnis stellten sich die Konferenz der Kantone, Spitzenverbände der Wirtschaft, die GLP und die Grünen. Der Gewerkschaftsbund und die SP taktieren namentlich beim Lohnschutz weiter.

Umgesetzt werden soll der Vertrag bis spätestens 2028. Das Parlament soll regeln, ob es eine oder mehrere Abstimmungen und ob es das einfache oder doppelte Mehr braucht.

Mit der Neutralitäts-, Souveränitäts-, Kompass- und Grenzschutzinitiative stehen gleich vier europaskeptische Initiativen ab. Zustande gekommen ist bis jetzt aber nur die Neutralitätsinitiative. Die einzige proeuropäische Volksinitiative der Operation Libero droht im Unterschriftenstadium zu scheitern.

2024 ist die Nachhaltigkeitsinitiative der SVP mit 114'000 gültigen Unterschriften zustande gekommen. Sie will die ausländische Wohnbevölkerung auf zehn Prozent beschränken, andernfalls soll die Personenfreizügigkeit mit der EU gekündigt werden. Der Bundesrat lehnt dies ab, sucht noch nach mehrheitsfähigen Wegen für einen Gegenvorschlag.

Gemäss gfs.bern begegnen die Stimmberechtigten der EU mit rationalen Erwägungen und viel emotionaler Skepsis. Die neuen Verhandlungen mit der EU werden mehrheitlich akzeptiert. Dem steht namentlich die SVP-Wählerschaft gegenüber, unterstützt von misstrauischen Menschen. Viel Skepsis findet sich bei 40- bis 64-Jährigen.

Sparprogramm

Der Gesamtbundesrat lancierte ein umfassendes mehrjähriges Sparprogramm, das von einer Fachgruppe vorbereitet worden war. Die Experten sahen einen Sparbereich von vier Milliarden Franken.

Das Parlament hat darauf basierend das Budget mit einigen Veränderungen angenommen. Vorgesehen sind Gesamtausgaben von rund 86,4 Milliarden Franken, zusätzliche 530 Millionen Franken für die Armee, Kürzungen bei der Auslandshilfe und dem Personal, nicht aber für die Landwirtschaft. Auf einen Ausbau der Kinderzulagen wurde verzichtet. Eingehalten werden konnten so die Vorgaben der Schuldenbremse.

Nationalrat
Das Parlament sagte Ja zum Sparbudget 2025. - keystone

Das bewilligte Budget stellt einen Kompromiss zwischen den Parlamentskammern dar, nicht aber einen politischen. Dafür stimmten die bürgerlichen Vertretungen, SP, Grüne und GLP votierten aus verschiedenen Gründen dagegen.

Das Parlament bewilligte auch die Abschaffung des Eigenmietwertes für Hausbesitz. Opposition gab es von Mieterseite, aber auch aus den Berggebieten, der Bauwirtschaft und den Banken. Bei einem Ja in der Volksabstimmung fallen 1,7 Milliarden Franken weg.

Wirtschaft

Die Schweiz ist nach den Niederlanden das am meisten globalisierte Land der Welt. Der Aussenhandel, der Finanzplatz, zahlreiche internationale Organisationen, hohe Attraktivität für ausländische Investitionen und viele multinationale Unternehmen mit Sitz in der Schweiz sprechen dafür. Das Niveau bleibt trotz Steigerung leicht unter dem Wert vor der Pandemie.

Mit Indien konnte ein weiteres Freihandelsabkommen abgeschlossen werden. Es soll den Freihandel mit dem bevölkerungsreichsten Land intensivieren.

Öffentliche Kontroversen durch die einsetzende Digitalisierung ergaben sich insbesondere bei Airbnb. In der Stadt Luzern wurde eine linke Initiative dagegen angenommen.

Die mittleren Lohnerhöhungen erreichten 2024 zwei Prozent. Der grössere Teil entfiel dabei auf kollektive Lohnerhöhungen, der kleinere auf individuelle. Gewerkschaften beklagten einen Rückgang der Durchschnittslöhne und verlangten Nachbesserungen in neuralgischen Branchen wie etwa der Pflege.

Mit durchschnittlich sechs Prozent weit stärker schlugen 2024 die Krankenkassenprämien auf.

Die Wirtschaftsbilanz 2024 fiel durchzogen aus. Die Auswirkungen der Pandemie sind überwunden, die Weltwirtschaft schwächelt aber: So veränderte sich das BIP nur um 1,1 Prozent nach oben, weniger als in den USA und Europa.

Die Schweizerische Nationalbank senkte den Leitzins zweimal. Damit wird die Kreditaufnahme günstiger, was die Wirtschaft ankurbeln soll. Nutzniesser dürften zudem Hauseigentümer, indirekt auch Mieterinnen sein. Nachteile gibt es für konventionell Sparende.

Verglichen mit dem Ausland sind die Löhne gemäss dem Institut für Wirtschaftspolitik der Uni Luzern eher gleich verteilt, nicht aber das Vermögen. Die vermögendsten zehn Prozent besitzen da zwei Drittel. Ihr Anteil ist sogar steigend.

Das Medianvermögen beträgt 168'000 Euro. Der Durchschnitt liegt bei horrenden 697'000 US-Dollar, was für eine starke Ungleichverteilung spricht.

Die 300 reichsten Personen in der Schweiz verfügen über 833 Milliarden Franken Vermögen, was einem Anstieg um 4,8 Prozent entspricht. 152 der 300 sind Milliardäre. Erstmals gibt es auch Bitcoin-Superreiche.

Gesellschaft

2024 überschritt die Bevölkerungszahl erstmals die Neun-Millionen-Grenze.

Die Auslandschweizerstatistik des BfS zählt 813'400 (2023) registrierte Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer.

Die Nettozuwanderung ging leicht zurück. Ende Juni 2024 lebten 2'339'000 Ausländerinnen und Ausländer dauerhaft in der Schweiz, was einem Ausländeranteil von 25 Prozent entspricht.

Ende Oktober 2024 lebten insgesamt rund 88'000 anerkannte Flüchtlinge in der Schweiz.

Per Ende Juli 2024 verfügten 66'291 Personen aus der Ukraine über den Schutzstatus S in der Schweiz. Das Wachstum war geringer als erwartet.

Die Sinus-Milieu-Studie legte 2024 vor allem Veränderungen in der Mittelschicht nahe: Das Milieu der «Nostalgisch-Bürgerlichen» ist in die Defensive geraten. Aufstrebend sind pragmatische Menschen mit Balance zwischen Arbeit und Freizeit. Neu kommen in der jüngsten Gruppe «Progressive Realisten» auf, die zwischen Party und Protest lebten.

Medien

Alle Medienhäuser betreiben namentlich im Printbereich einen Abbau. Auch die SRG sieht auf Druck des Bundesrats einen bisher unbekannten Leistungs- und Stellenabbau vor.

Hintergrund der Restrukturierung sind sinkende Nutzungszahlen; rückläufig sind auch Werbeeinnahmen. Ein FöG-Bericht zeigt, dass die Nutzung von SRG-Angeboten private Medien nicht verdrängt, sondern ergänzt. Steigende 46 Prozent der Schweizer Bevölkerung konsumieren keine Nachrichten mehr.

Machst du jeweils für dich persönlich einen Jahresrückblick?

Online-Medien sind inzwischen die wichtigste Mediengattung für die Meinungsbildung der Schweiz. Derweil bleibt die Nutzung von sozialen Medien weiterhin zurück.

Eine Bakom-Studie kam zum Schluss, dass «20 Minuten», Youtube und Instagram die meinungsmächtigsten Medien sind. Sie rangieren vor diversen SRG-Medien, Facebook und «Blick». Die Medienvielfalt sei gegeben, um eine unabhängige Meinungsbildung zu garantieren.

Viel Beachtung fand eine Studie der ZHAW, die eine wachsende Linkstendenz bei Medienschaffenden feststellte. Insbesondere bei Frauen im Journalismus dominiere eine linke Haltung. Kritisiert wurde aber die bloss summarische Wiedergabe der Studienergebnisse.

Kommentare

User #1731 (nicht angemeldet)

20.12.2024 in Bern: Korruption trifft Vetternwirtschaft…sie verstehen sich prächtig.

User #2533 (nicht angemeldet)

Der BR muss den Vertragstext der Öffentlichkeit zugänglich machen. Ansonsten hat dieser Schlechte Deal ohnehin keine Chance beim Volk. Was versteckt der BR?

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