Coronavirus: ETH-Forscherin Stadler erklärt schwankenden R-Wert
Nach dem heftigen Auf und Ab des R-Werts erklärt ETH-Forscherin Tanja Stadler, was dahintersteckt. Ihr ist wichtig, dass die Bevölkerung die Kennzahl versteht.
Das Wichtigste in Kürze
- Der R-Wert bewegte sich in den letzten Wochen sprunghaft, was für heftige Kritik sorgte.
- Die zuständige ETH-Forscherin Tanja Stadler erklärt, warum sich die Zahl ständig ändert.
- Sie warnt ausdrücklich davor, den R-Wert als alleinige Entscheidungsgrundlage zu sehen.
Innert zehn Tagen sank der R-Wert kürzlich von 1,19 auf 0,96, um nach dem Osterwochenende wieder auf 1,14 hochzuschnellen. Auch zuvor kam es wiederholt zu deutlichen Korrekturen. Die Berechnungen der ETH veränderten auch den R-Wert für ein und denselben Tag stark.
R-Wert sorgt für Verwirrung und Verunsicherung
Die Sprünge sorgen in der Politik für riesigen Ärger – bis hin zu einer Rücktrittsforderung von SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi an Alain Berset. Grund: Der Bundesrat beachtet die Reproduktionszahl bei seinen Entscheiden über Corona-Massnahmen stark.
Derweil ist vielen Menschen nicht bewusst, wie der für ihr Leben zentral gewordene Wert berechnet beziehungsweise geschätzt wird. Ermittelt wird der R-Wert von ETH-Forscherin Tanja Stadler. Die Zahl gibt an, wie viele Personen eine infizierte Person im Durchschnitt mit dem Coronavirus ansteckt.
Stadler: «Wir machen eine Schätzung»
Der neuste verfügbare Wert von 1,14 bedeutet also, dass am 6. April 100 Infizierte 114 weitere Menschen angesteckt haben. Bleibt es dabei, ist die Folge ein exponentielles Wachstum der Fallzahlen. Doch wirklich «genau» ist diese Schätzung nicht.
Auf Anfrage von Nau.ch gibt die Wissenschaftlerin nun Einblick in die Tücken der Reproduktionszahl des Coronavirus. Denn: «Für mich ist es sehr wichtig, dass die Menschen verstehen, wie der R-Wert zustande kommt und was er aussagt.» Da auch die ETH den «wahren» R-Wert während einer Pandemie nicht ermitteln könne, «machen wir eine statistische Schätzung».
Zentral sei, dass die Schätzung immer nur einen Trend angebe, wie sich die Infektionszahlen vor etwa zwei Wochen entwickelt haben. «Diese Schätzung ist zudem immer mit Unsicherheiten verbunden, die wir in der Wissenschaft berechnen und auch immer angeben.»
Die verwendeten Daten zur R-Wert-Berechnung sind gemäss Stadler die gemeldeten Fälle wie bestätigte Infektionen, Hospitalisierungen oder Todesfälle. In die Berechnungen fliessen indes kontinuierlich neue Daten zum Coronavirus ein, sobald diese gemeldet werden.
Wochenenden belasten Genauigkeit
Doch wie erklärt die Professorin die teilweise massiven Sprünge des R-Werts? Stadler spricht von «Nachkorrekturen», welche vorgenommen werden. Das könne zum Beispiel mit Weekend-Effekten zu tun haben, «weil sich übers Wochenende oder eben über Ostern weniger Menschen testen lassen».
Tatsächlich sank der R-Wert in der Woche nach Ostern entgegen den Erwartungen auf unter 1. Aufgrund des Aufwärtstrends der Fallzahlen hätte man von einem ebenfalls steigenden R-Wert ausgehen müssen. Das durch die Feiertage verlängerte Wochenende hatte den Effekt der geringeren Testungen noch stärker sichtbar gemacht, so Stadler.
Korrekturen des R-Werts aus der Zukunft
Gemäss Biostatistikerin Stadler sehe man jeweils am Mittwoch die höchste Zahl von gemeldeten Infektionen mit dem Coronavirus. Das führe zu einem «Rauschen» in den Daten, das die ETH «glätte». Sonst würden zufällige und natürliche Fluktuationen zu stark abgebildet, erklärt die Forscherin.
Das geschehe in der verwendeten Methode kontinuierlich. «Die Glättungswerte der Zahlen vom heutigen Tag werden in der Zukunft mit weiteren Daten nachkorrigiert», so Stadler.
In der Folge werde dann auch der geschätzte R-Wert nachkorrigiert. «An den aufeinanderfolgenden Ostertagen sieht man diesen Effekt stärker», räumt Stadler zu den massiven Ausschlägen ein.
Hinzu kommt: Der R-Wert wird wegen der Effekten des Wochenendes auch nicht täglich aktualisiert. Jeweils am Freitag werden dann vier zusätzliche Tage verfügbar. Stadler erklärt das in ihrer Stellungnahme folgendermassen.
Dass sich der R-Wert rasch verändern kann, ist sich die ETH also durchaus bewusst. Und Tanja Stadler warnt sogar davor, diesen als allein selig machenden Richtwert zu interpretieren. «Aus Sicht der Wissenschaftstaskforce sollte die Schätzung der Reproduktionszahl nie als einzige Grösse verwendet werden, um die epidemiologische Lage zu beurteilen und Entscheidungen zu fällen.»
Coronavirus: Bundesrat lockert trotz R-Wert von 1,14
Diese Botschaft ist offenbar auch im Bundesrat angekommen. Trotz einem R-Wert von 1,14 lockerte er die Massnahmen gegen das Coronavirus am Mittwoch signifikant. So sind etwa ab Montag die Terrassen von Restaurants wieder geöffnet.
Von Nau.ch auf die Reproduktionszahl angesprochen, bestätigte Gesundheitsminister Alain Berset: «Der R-Wert ist ein wichtiges Kriterium, aber eines unter mehreren.» Denn: «Wir wissen, dass mit der Entwicklung der Pandemie es regelmässig zu Korrekturen kommt.» Das sei «nicht so einfach und evident», so der SP-Bundesrat.
Sicher ist: Ein tieferer R-Wert würde nicht nur den Bundesrat, sondern die ganze Gesellschaft freuen. Denn bei allen Schwankungen ist klar: Verbleibt die Reproduktionszahl über Wochen hinweg deutlich über 1, steuert die Schweiz in eine heftige dritte Welle des Coronavirus.