Coronavirus: Neuer Task-Force-Chef will weniger Verbote
Martin Ackermann präsidiert ab August die wissenschaftliche Corona-Task-Force. Wie er die Lage einschätzt – und was es braucht, um eine 2. Welle zu verhindern.
Das Wichtigste in Kürze
- Ab dem 1. August leitet Martin Ackermann die wissenschaftliche Corona-Task-Force.
- Im grossen Interview verrät der Mikrobiologe, wie er die aktuelle Lage einschätzt.
- Der ETH-Forscher plädiert für gezielte Massnahmen und gibt sich wirtschaftsfreundlich.
Auf dem Höhepunkt der Corona-Krise im Frühling reagierte der Bundesrat auf die Kritik, dass er zu wenig auf Experten höre. Die Landesregierung setzte eine wissenschaftliche Task-Force ein, welche die Entscheidungsträger beraten soll.
Nach mehreren Monaten im Amt hat der Berner Epidemiologe Matthias Egger nun das Präsidium abgegeben. Per 1. August übernimmt der Zürcher Mikrobiologe Martin Ackermann das Amt.
Im grossen Interview nimmt er bei Nau.ch Stellung zur Rolle der Wissenschaft, zur aktuellen Lage und zur Frage, ob es nun weitere Massnahmen braucht, um eine zweite Welle zu verhindern. Dabei gibt sich Ackermann durchaus auch wirtschaftsfreundlich.
Nau.ch: Herr Ackermann, herzliche Gratulation zum neuen Amt als Chef der wissenschaftlichen Corona-Task-Force. Wie kam es dazu?
Martin Ackermann: Danke! Ich war von Beginn weg Vize-Präsident meines Kollegen Matthias Egger. Dadurch kenne ich die Arbeit der Task-Force natürlich sehr gut. Nachdem sich Matthias Egger wieder vermehrt seinen anderen Aufgaben widmen möchte, wurde ich angefragt. Ich freue mich sehr, dieses ehrenamtliche Amt ab dem 1. August auszuüben.
Nau.ch: Wie sehen Sie die Rolle des Gremiums in der «besonderen Lage»?
Martin Ackermann: Wir müssen weiterhin die unabhängige Stimme der Wissenschaft sein. Das bedeutet einerseits einen intensiven Dialog mit den Behörden auf den Ebenen Bund und Kanton. Doch ich möchte unsere Stimmen bewusst auch nach aussen in die Bevölkerung tragen.
Die Expertinnen und Experten der interdisziplinären Task-Force sollen sich in ihren Fachgebieten äussern. Ich selbst werde gerne die Gesamtsicht darlegen. Zentral scheint mir eine gute Balance zwischen Gesundheit, Wirtschaft und Ethik.
Nau.ch: Wirtschaft? In der Aussenwahrnehmung besteht die Task-Force nur aus Epidemiologen und sonstigen Gesundheits-Experten.
Martin Ackermann: Ich bin froh, dass dem nicht so ist, denn die Wirtschaft spielt eine wichtige Rolle. In der Task-Force herrscht Einigkeit, dass die Wirtschaft nicht gegen die Gesundheit ausgespielt werden darf. Denn die Wirtschaft kann sich nur erholen, wenn wir die Epidemie unter Kontrolle bringen.
Nau.ch: Wie beurteilen Sie denn die aktuelle Corona-Situation in der Schweiz?
Martin Ackermann: Als die Zahlen Ende Juni rasch zu steigen begannen, machten wir uns grosse Sorgen. Ist das Wachstum der Infektionen exponentiell, kann die Epidemie rasch wieder ausser Kontrolle geraten wie damals im März. Die Zahlen haben sich aber nun doch um die 100 Fälle pro Tag stabilisiert. Das stimmt optimistisch.
Nau.ch: Mittlerweile sind allerdings zwei bis drei Prozent der getesteten Personen positiv. Dieser Wert hat sich innert wenigen Wochen mehr als verdoppelt. Macht Ihnen das Sorgen?
Martin Ackermann: Diese sogenannte Positivitätsrate ist natürlich wichtig, aber schwer zu beurteilen. Denn: Wir wissen längst nicht bei allen Fällen, wo und wann sich eine Person angesteckt hat. Uns fehlen etwa Daten, wie viele der positiv getesteten Personen via Contact Tracing aufgespürt wurden. Ist dieser Wert hoch, könnte die höhere Positivitätsrate auch ein gutes Zeichen sein. Grundsätzlich plädieren wir weiter dafür, viel zu testen. Auch bei geringen Symptomen.
Nau.ch: Für Diskussionen sorgt, dass nur jede zweite Person, die aus einem Risikoland einreist, wirklich in Quarantäne geht.
Martin Ackermann: Hier fehlen uns schlicht die Daten. Wir wissen etwa nicht, wie viele der positiven Fälle effektiv in Isolation sind. Da besteht Handlungsbedarf, aber die Umsetzung der Quarantäne-Regeln ist keine Frage der Wissenschaft. Sicher ist: Für die Strategie der Schweiz ist die Einhaltung der Quarantäne essenziell.
Wir alle müssen uns fragen: Ist es vernünftig momentan in ein Risikoland zu reisen? Und wenn doch, schütze ich meine Mitmenschen, in dem ich mich freiwillig in Quarantäne begebe?
Nau.ch: Was sagen Sie zur bisherigen Krisen-Bewältigung durch Bundesrat und BAG?
Martin Ackermann: Wir müssen die letzten Monate am Ergebnis messen. Und dieses ist sehr gut. Anfang März war die Situation heikel. Es ist den Behörden gelungen, die Kurve effektiv zu senken. Auch die Massnahmen für die Wirtschaft haben insgesamt ausgezeichnet funktioniert.
Nau.ch: Was sagen Sie zum grossen Masken-Theater? Hätten Daniel Koch und die Regierung früher auf diese setzen müssen?
Martin Ackermann: Aus wissenschaftlicher Sicht ist das schwer zu sagen. Am Anfang wusste man deutlich weniger über das Virus.
Dass Masken auch für den Träger selbst grossen Schutz bieten, wurde erst zu einem späteren Zeitpunkt klar. Aus wissenschaftlicher Sicht herrscht heute ein Konsens, dass dem so ist.
Nau.ch: Stichwort Maskenpflicht: Plädieren Sie aktuell für zusätzliche Einschränkungen?
Martin Ackermann: Wenn die Fallzahlen stabil bleiben, ist das nicht nötig. Zentral ist, dass die geltenden Massnahmen funktionieren.
So rasch wie möglich sollten allgemeine Massnahmen durch Interventionen abgelöst werden, die nicht der ganzen Wirtschaft schaden. Konkret heisst das etwa: Mehr Contact Tracing, weniger Verbote.
Bis im Herbst gilt es, eine gute Kombination von Massnahmen zu finden, welche die Epidemie unter dem Deckel halten und die Wirtschaft und Bevölkerung atmen lassen. Um wieder mehr Freiheiten zu erhalten, ist auch die Covid-App zentral.
Nau.ch: Im Herbst werden sich die Menschen wieder vermehrt in geschlossenen Räumen aufhalten. Wie lässt sich die drohende zweite Welle verhindern?
Martin Ackermann: Wie gesagt: Wir müssen den Sommer mit relativ tiefen Fallzahlen nutzen, um uns so gut wie möglich darauf vorzubereiten. Dazu braucht es auch Fortschritte bei der Datenerfassung- und Analyse. Wichtig wird ebenfalls sein, dass die Schweiz so viele Grippe-Impfungen wie möglich besorgt und durchführt. So und mit besseren Daten sind wir gerüstet für die kalte Jahreszeit.