EGMR-Austritt – Nicola Forster kritisiert SVP-Forderung scharf
Nach dem Urteil im Fall der Klimaseniorinnen fordert die SVP den EGMR-Austritt. Damit würde sich die Schweiz isolieren, warnt Libero-Mitgründer Nicola Forster.
Das Wichtigste in Kürze
- Der EGMR rügt die Schweiz: In Sachen Klimaschutz verletze der Bund die Menschenrechte.
- Für die SVP ein inakzeptables Urteil: Die Volkspartei fordert den Europarat-Austritt.
- Libero-Mitgründer Nicola Forster hält davon wenig: «Die Schweiz würde sich isolieren.»
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat am Dienstag ein historisches Urteil gefällt: In Sachen Klimaschutz verletze der Bundesrat die Menschenrechte – das Gericht ist auf die Beschwerde des Vereins «Klimaseniorinnen» eingetreten. Der Entscheid der Grossen Kammer fiel deutlich mit einer Mehrheit von 16 zu 1 Stimme.
Bis dato hatte sich der EGMR noch nie explizit zur Verantwortung von Staaten für Massnahmen gegen den Klimawandel geäussert. Konkrete Folgen für die Schweiz dürfte der Entscheid allein vermutlich aber keine entfalten. Trotzdem schlägt das richterliche Verdikt aus Strassburg hohe Wellen in der Schweiz und auf dem internationalen Parkett.
SVP fordert Austritt aus EGMR-Zuständigkeitsbereich
Die Reaktionen auf den Sieg der Seniorinnen fallen indes sehr unterschiedlich aus. Während Linke und insbesondere Grüne sich in ihrer Politik bestärkt fühlen, verstehen Bürgerliche die Rüge als Skandalurteil: In einer Medienmitteilung fordert die SVP den sofortigen Austritt aus dem Europarat – und damit aus dem Zuständigkeitsbereich des EGMR.
Dieser sei ein «expansiver Gerichtshof», der sich zunehmend in nationale Angelegenheiten einmische, die zum Beitrittszeitpunkt der Schweiz kein Thema waren: «Die SVP lehnt dieses Urteil fremder Richter entschieden ab», so das Communiqué. Für politische Entscheide sei in der Schweiz der demokratisch gewählte Gesetzgeber zuständig.
Tatsächlich wurde der sogenannte «Schutzbereich» der Menschenrechte durch die erstmalige Anwendung in konkreten Einzelfällen immer weiter ausgedehnt: Vor diesem Hintergrund warnte der ehemalige Schweizer EGMR-Gerichtspräsident Luzius Wildhaber vor einer «stetigen Expansion der Menschenrechte».
«Austritt würde Schweiz isolieren»
Ganz anders beurteilen europafreundliche Kräfte den Urteilsspruch. Nicola Forster, seines Zeichens Gründer der EU-freundlichen Denkfabrik Foraus, beispielsweise ist überzeugt: Der Gerichtshof habe berechtigterweise festgestellt, dass Menschenrechte verletzt würden, wenn Schweizerinnen und Schweizer nicht besser vor dem Klimawandel geschützt werden.
«Es ist ein bahnbrechendes Urteil – auch aufgrund seiner Deutlichkeit», erklärt Forster auf Anfrage von Nau.ch. Die Austrittsforderung der SVP hält der Zürcher denn auch für keine gute Idee: «Mit einer Kündigung würde sich die Schweiz isolieren und dem Schutz der Menschenrechte schaden.»
Entsprechend sei es besser, wenn die Schweiz ihre Mitgliedschaft nicht kündige und sich stattdessen für Reformen einsetze. Europaweit ist Russland der einzige Staat, der kein Mitglied des Europarats ist – die russische Mitgliedschaft wurde 2022 entzogen.
Beim EGMR handle es sich überdies keineswegs um «fremde Richter», betont Forster: «Die Schweiz stellt – wie jeder Mitgliedsstaat – einen eigenen Richter. Es ist ein gemeinsames Gericht.»
Ferner seien EGMR und die Menschenrechtskonvention auch demokratisch stark legitimiert: «2018 wurde die gegen die EMRK gerichtete Selbstbestimmungsinitiative mit 66,3 Prozent Wählerstimmen- und 100 Prozent Standesstimmenanteil abgelehnt.» Die Initiative sah vor, dass nationales Recht vor internationalem Recht automatischen Vorrang erhielte.
«Politik ihren Spielraum lassen»
Ungeachtet dessen verweist auch Forster auf die Bedeutung der demokratischen Selbstbestimmung: «Es ist tatsächlich wichtig, dass sich das Gericht auf den Schutz der Menschenrechte beschränkt und der Politik ihren Spielraum lässt.»
Der GLP-Politiker betont, dass die Schweiz ihre «Hausaufgaben» unabhängig von diesem Gerichtsurteil erledigen sollte: Es sei bereits vorher klar gewesen, dass mehr konkrete Massnahmen zur Emissionsreduktion nötig seien. Auch deshalb stimme die Schweiz im kommenden Juni über das «Bundesgesetz für eine sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien» ab.