Kantonale Mindestlöhne und GAVs: Föderalismusexperte ordnet ein
Das Parlament möchte Gesamtarbeitsverträge über kantonale Mindestlohn-Gesetze stellen. Das geht nicht grundsätzlich gegen den Föderalismus, sagt ein Experte.
Das Wichtigste in Kürze
- Die kantonalen Mindestlöhne könnten künftig ausgehebelt werden.
- Linke Parlamentsmitglieder kritisierten dies und beriefen sich auf den Föderalismus.
- Politologe und Föderalismusexperte Sean Müller ordnet ein.
In der letzten Sessionswoche hat das Parlament eine Motion angenommen, die für viel Aufschrei von links gesorgt hat: Die Motion des Obwaldner Ständerats Erich Ettlin hatte zum Ziel, die «Sozialpartnerschaft vor umstrittenen Eingriffen» zu «schützen».
Konkret sollen immer die – von den Sozialpartnern ausgehandelten –Gesamtarbeitsverträge der Branchen gelten. Aktuell ist das nicht der Fall: In Kantonen, wo der Mindestlohn höher ist als in den Gesamtarbeitsverträgen, muss das kantonale Gesetz eingehalten werden. Die Mindestlöhne, wie sie von Arbeitgebenden bevorzugt werden, werden also nicht beachtet.
Erich Ettlin, Mitglied des Gewerbeverbands, fand beim Bundesrat keine Zustimmung für das Anliegen. Im Ständerat wurde es dann aber locker angenommen, im linkeren Nationalrat eher knapp. Zum Unmut der linken Nationalratsmitglieder.
#Föderalismus - das war gestern!
— 𝗦𝗶𝗯𝗲𝗹 𝗔𝗿𝘀𝗹𝗮𝗻 (@SibelArslanBS) December 14, 2022
Heute - ein #Novum im Bundesbern.
Kantonale Volksrechte - kantonale #Kompetenzen - werden von der Parlamentsmehrheit missachtet. Existenzsichernde #Mindestlöhne, welche kantonal angenommen wurden, werden mit 95:93 Stimmen untergraben.🤬😤 @ParlCH
SP-Co-Chef Cédric Wermuth bezeichnete die Annahme der Motion als «parlamentarischer Putsch gegen die Verfassung». Grünen-Nationalrätin Sibel Arslan twitterte: «Föderalisus – das war gestern!» Kantonale Kompetenzen und Volksrechte würden missachtet, so die Baslerin weiter.
Föderalismus: Verschiedene Interpretationen
Föderalismusexperte Sean Müller ist nur teilweise mit dieser Argumentation einverstanden. Der Politologe findet, es gebe durchaus Spielraum: «Föderalismus bedeutet auch Einheitlichkeit und Zentralisierung dort, wo eine demokratische Mehrheit dies für nötig befindet.»
«Der eigentliche Sündenfall», so Müller, «fand aber ausgerechnet im Ständerat, in der Kantonskammer, statt.» Vor drei Jahren habe der Ständerat eine ähnlichen Motion abgelehnt. Im Sommer 2022 aber habe er plötzlich zugestimmt.
Sean Müller erläutert ein Beispiel: Mitte-Ständerat Benedikt Würth (SG) habe während der Wintersession 2019 gesagt, ein Flickenteppich sei nichts Schlimmes. «Mittlerweile scheint er seine Meinung geändert zu haben», bemerkt der Politologe.
Problematisch an der Motion sei auch, dass demokratisch legitimierte – also durch Volksabstimmung verabschiedete –Mindestlöhne nun gestrichen würden: Das sagte Wirtschaftsminister Guy Parmelin im Nationalrat. Ein GAV habe nicht dieselbe Stellung, rein demokratisch gesehen.
Bürgerliche Ständeräte haben «eigenen Wahlkörper desavouiert»
Dem stimmt auch Sean Müller zu: Dass die Motion ausgerechnet mit bürgerlicher Unterstützung durchgekommen sei, «entbehrt nicht einer gewissen Ironie». Sie seien jene, «die sonst immer auf den unmittelbaren und unfehlbaren Volkswillen pochen».
«Noch verwirrender sind nur die zustimmenden Voten der Ständeräte Bauer, Chiesa und Juillard», sagt Müller. Sie repräsentieren Kantone, deren Gesetze von GAVs ausgehebelt werden: Neuenburg, Tessin und Jura, der Reihe nach. Damit desavouierten die Kantonsvertreter «ihren eigenen Wahlkörper».
Die Gewerkschaften haben schon mit einem Referendum gedroht. Der Bundesrat ist aber zuerst noch am Zug: Er muss eine Gesetzesänderung vorbereiten und diese in die Vernehmlassung schicken, erklärt Sean Müller. Chancen könnte ein Referendum aber trotzdem haben.
«Die Änderung wird im Volk einen schweren Stand haben», mutmasst Müller. Darauf deuteten «der schon äusserst knappe Entscheid des Nationalrates» und «die sehr spezielle Ausgangslage» hin. Zwar sei die Forderung 2014 schweizweit abgelehnt worden.
«Aber es fanden ja eben auch fünf von acht kantonalen Vorstössen Mehrheit. Warum diese plötzlich nicht mehr gelten sollen, wird schwierig zu erklären sein», so Müller.